Projektbeschreibung - von Fallakten mit KI zum Training
Liegen gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vor, sind Fachkräfte des Jugendamtes gemäß § 8a Abs. 1 SGB VIII und Mitarbeitende freier Jugendhilfeträger analog einer Vereinbarung nach § 8a Abs. 4 SGB VIII verpflichtet, das individuelle Gefährdungsrisiko eines Minderjährigen einzuschätzen und bei Bedarf zum Schutz Minderjähriger tätig zu werden.
Hierfür haben sie unter anderem die Gefährdungssituation der Minderjährigen genau zu analysieren und diese mit der (eingeschränkten) Erziehungsfähigkeit der Erziehungsberechtigten in Verbindung zu setzen. Es gilt also zunächst zu klären, ob die Kindeswohlgefährdung durch ein Handeln oder Unterlassen der Erziehungsberechtigten entsteht und Minderjährige dadurch einer erheblichen Gefährdung ausgesetzt sind. Erziehungsfähigkeit wird in diesem Kontext als komplementärer Begriff zur Kindeswohlgefährdung verstanden. Eine unzureichende Erziehungsfähigkeit indiziert demnach eine mögliche Kindeswohlgefährdung. Darüber hinaus sind vorhandene Risikofaktoren für eine weitere Kindeswohlgefährdung zu berücksichtigen und letztendlich eine Gefährdungsprognose zu erstellen.
Dieser in der Praxis hochkomplexe Vorgang erfordert nicht nur hinreichend zeitliche und personelle Ressourcen, sondern auch, dass Fachkräfte über ein umfassendes Kinderschutzwissen verfügen.
Der Prozess wird unter anderem dadurch erschwert, dass aus den bei einem Kind auftretenden Symptomen, die auf schwere psychische Probleme hinweisen, nicht automatisch abgeleitet werden kann, ob es vernachlässigt, körperlich misshandelt oder sexuell missbraucht wurde bzw. wird oder an einer hirnorganischen Erkrankung leidet. Dasselbe gilt für Erziehungsberechtigte, die unter starken seelischen Belastungen bzw. psychischen Störungen leiden. Ob sich aus solchen Symptomen eine konkrete Gefährdung für Minderjährige ableitet, kann nicht pauschal beantwortet werden. Insofern ist es fachlich geboten, der Individualität jedes Einzelfalls gerecht zu werden und genau zu prüfen, ob Minderjährige gegenwärtig durch ein Handeln oder Nicht-Handeln ihrer Erziehungsberechtigten physischen oder psychischen Gefahren ausgesetzt sind. Dabei gilt es ebenfalls zu bewerten, ob und inwiefern mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im weiteren Verlauf eine erhebliche Schädigung ihres geistigen, seelischen oder körperlichen Wohls erwarten ist. In der Praxis ist dies nicht immer leicht zu erkennen und erfordert neben Zeit, Fachkräften, Fachwissen und Können auch Übung und Training.
Das von zukunft.niedersachsen geförderte Forschungsprojekt AId4Children setzt genau hier an. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (AI) und virtueller Realität (VR) werden Kinderschutzkasuistiken erstellt, an denen Studierende und Fachkräfte die Identifikation und das Beschreiben gewichtiger Anhaltspunkte sowie die Einschätzung des Gefährdungsrisikos trainieren können. Zur Präzisierung ihrer theoriegeleiteten Situationsanalysen arbeiten sie dabei unter anderem mit der Kindeswohlmatrix (siehe unten). Das Instrument wurde von Prof. Dr. Christof Radewagen zusammen mit Expert:innen aus der Praxis entwickelt und ist Bestandteil des Berichts der niedersächsischen Lügde-Kommission sowie des Online-Learning-Programms „Gute Kinderschutzverfahren“.
Kindeswohlmatrix und Gewichtungshilfe
Hier können Sie die Kindeswohlmatrix und die Gewichtungshilfe ansehen. Beachten Sie, dass diese urheberrechtlich geschützt sind.
Wenn Sie sich auf die Kinderwohlmatrix und Gewichtungshilfen z.B. in wissenschaftlichen Publikationen beziehen möchten, geben Sie folgende Quellen an:
- Radewagen, Christof: Schutzauftrag des Jugendamtes bei Kindeswohlgefährdung nach §§ 8a, 42 SGB VIII. In: ZKJ – Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe 2020, Heft 8, S. 295-301, Reguvis, Köln 2020 · Lügde-Kommission beim Landespräventionsrat Niedersachsen: Abschlussbericht der Lügde-Kommission, Dezember 2020.
Virtuelle Szenarien - Reale Expertise
Um für das Training passende Kinderschutzkasuistiken zu schaffen, welche mit Künstlicher Intelligenz und Virtual Reality umgesetzt werden können, müssen realistische virtuelle Szenarien geschaffen werden. Um dies zu erreichen, gilt es nicht nur, die technischen Anforderungen zu klären, sondern auch passende Kriterien für eine virtuelle Darstellung eines Kinderschutzfalls zu identifizieren.
Dementsprechend werden an anonymisierten Fallakten orientierte, synthetische Szenarien erstellt, welche eigene, spezifische Fallmerkmale aufweisen, die das virtuelle Szenario berücksichtigen. Zu diesem Zweck wird händisch ein erster Fall als Prototyp erstellt, welcher nicht nur weitere Erkenntnisse zur Einrichtung der Szenarien liefern soll, sondern auch als initialer Test für den Bewertungsprozess von Proband:innen zweckdienlich sein wird.
Im weiteren Projektverlauf soll Generierung via künstliche Intelligenz langfristig die Erstellung von Szenarien übernehmen. Die Erkenntnisse und das Feedback des Prototypentests werden hierbei berücksichtigt. Dazu soll ein Künstliches Neuronales Netzwerk trainiert werden. Der gegenwärtig dominierende und vielseitige Ansatz des Prompt Engineering ist das derzeit führende Prinzip in Sachen Künstlicher Intelligenz und ist eine Technik, mit der große Sprachmodelle, basierend auf Neuronalen Netzwerken, via schriftlichen Handlungsanweisungen („Prompts“) feinjustiert werden, um eine große Menge an Aufgaben zu erledigen. Eine abgewandelte Version eben dieses Prompt Engineering könnte genutzt werden, um synthetische Fallakten nach Vorbildern zu generieren, welche eine weitere künstliche Intelligenz als virtuellen Raum generiert.
Die Erstellung der Szenarien erfolgt über die Unity Engine und soll einen geeigneten Grad an Interaktivität für NutzerInnen erzeugen, mit welchem ihre Fähigkeit, Gefährdungsrisikos einzuschätzen, trainiert und auch evaluiert werden können.