Wilfried Schnepp

 

Geboren am 3. Juni 1957 in Lengerich und gestorben am 14. Februar 2020 in Osnabrück: Dankbar, Dir begegnet zu sein, werden wir in Deinem Sinn von Familie weiterforschen - noch sind wir sehr  traurig...

Im Namen aller FamiLe-Mitglieder

Stephanie Stelzig

Nachruf auf Univ. -Prof. Dr. Wilfried Schnepp

„Verstehen, was die Herausforderung ist, darum geht es uns“ – Interview im Vorfeld der 4. Internationalen Fachtagung am 25. Mai

Professor Dr. Wilfried Schnepp (hinten, 3.v.l.) und Professorin Dr. Friederike zu Sayn-Wittgenstein (hinten, 4.v.l.) gemeinsam mit einigen Kollegiatinnen und Kollegiaten des Forschungskollegs FamiLe – Familiengesundheit im Lebensverlauf.

Am 25. Mai endet offiziell die zweite Förderphase des Forschungskollegs „FamiLe – Familiengesundheit im Lebenslauf“ der Hochschule Osnabrück und der Universität Witten-Herdecke mit einer Fachtagung in Osnabrück. Im Interview sprechen die Verantwortlichen Prof. Dr. Friederike zu Sayn-Wittgenstein und Prof. Dr. Wilfried Schnepp über die Fragestellungen des Kollegs und die Herausforderungen für Pflege- und Hebammenwissenschaften.

Was erwartet die Teilnehmenden der Fachtagung?

Prof. Dr. Wilfried Schnepp (SP): Es wird eine sehr bunte und sehr anspruchsvolle Fachtagung, mit mehreren Vorträgen der beteiligten Professorinnen und Professoren, sowie einem Beitrag einer Gastreferentin aus der Schweiz und mit einer moderierten Postersession. Dort bekommen die Ergebnisse der Kollegiatinnen und Kollegiaten ihre Plattform. Wir Lehrenden werden uns fragen, was genau hat das Forschungskolleg eigentlich aus und mit unseren Themen und Fragestellungen gemacht?

Um welche Themen und welche Zielgruppen geht es bei FamiLe?

Prof. Dr. Sayn-Wittgenstein (S-W): Es geht um Familiengesundheit im Lebensverlauf und um die Bedeutung, die Familien zukommt in der Aufrechterhaltung von Gesundheit aber auch im Bewältigungshandeln. Sie sind ja nicht nur Empfänger von bestimmten Versorgungsleistungen, sondern sie sind in vielen Situationen aktive Akteure, die in der Pflege, in der Unterstützung ihrer Angehörigen tätig sind. Wir haben es also mit vielen verschiedenen Zielgruppen zu tun. Deshalb ist das Thema der Lebensverlauf. Wir blicken unter anderem auf junge, sich bildende Familien, auf Familien mit chronisch kranken Kindern, auf pflegende Angehörige insgesamt. Wir untersuchen das Bewältigungshandeln und fragen uns, wie gelingt das bei sehr kritischen Lebensereignissen, zum Beispiel mit einem Frühgeborenen? Wie gelingt es dann eine Familie zu sein? Was passiert in der palliativen Phase, wenn es um Sterbeprozesse geht? Unsere Vorträge stellen diese Lebensphasen und die dazugehörigen Fragen vor.

FamiLe ist ein vom BMBF gefördertes Forschungskolleg und genießt Modellcharakter. Sie haben in zwei Förderphasen 24 Promovierende betreut. Mit welchen methodischen Herausforderungen hatten Sie besonders zu tun?

S-W: Es geht häufig um vulnerable Gruppen. Also um Menschen in lebensbedrohlichen, lebenslimitierenden Situationen. Sie sind vielleicht bereit, an einem Forschungsprojekt teilzunehmen aber das ist nicht ihr dringendstes Anliegen. Man muss sich vorstellen, dass Menschen, die hoch belastet sind, gefragt werden, wie es ihnen geht, das ist kein Spaziergang, das sind existenzielle Ängste und nicht die Frage, welches Waschmittel brauche ich? Außerdem werden oft alle Familienmitglieder befragt, auch die Kinder. Es ist relativ neu, dass Kinder als selbstbestimmte Akteure gesehen werden, die sagen ‚wann geht es mir eigentlich gut und was hilft mir, mit meiner eigenen chronischen Erkrankung oder der eines Familienangehörigen zurecht zu kommen`.

SP: Besonders am Kolloquium ist auch, dass es nicht disziplinär, sondern thematisch ausgerichtet ist. Die Beiträge aus Hebammenwissenschaft und Pflegewissenschaft drehen sich immer um das Thema, also die Familie, in all diesen schillernden Situationen. Das zeigt, in diesem Fall haben die Disziplinen gelernt erfolgreich zusammenzuarbeiten.

Wie hat sich die Zusammenarbeit zwischen Ihnen entwickelt? Sie vertreten verschiedene Hochschultypen, was war wichtig für das Gelingen?

S-W: Die Kollegen beider Standorte kennen und schätzen sich aus vielen verschiedenen vorangegangenen Arbeitskontexten. Zum Beispiel durch das Vorläuferprojekt „IsQua“ mit geburtshilflicher Fragestellung. Nun ist es so, dass Promotionen auf absehbare Zeit an Fachhochschulen allein nicht möglich werden, Pflegewissenschaften und Hebammenwissenschaften geschichtlich gesehen aber an Fachhochschulen verortet sind. Entsprechend viele Forschungsvorhaben sind an den Fachhochschulen angesiedelt. Wenn wir die auf eine andere Qualifikationsebene heben möchten, und die brauchen wir für den professoralen Nachwuchs und die Studiengangentwicklung, dann brauchen wir die Promotionen. Mit der Ausschreibung des BMBF von 2011 ergab sich erstmals die Chance, in einer Ehe aus Uni und FH ein Forschungskolleg zu realisieren. Das wäre aber kaum gelungen, wenn wir nicht schon diese gefestigten Arbeitsstrukturen gehabt hätten. Wir arbeiten gerne zusammen, das ist wichtig, denn Hürden gibt es viele und der zeitliche Einsatz bildet sich nicht 1:1 in der Ermäßigung von Semesterwochenstunden ab.

Welche individuellen Wege sind Sie in der Zusammenarbeit gegangen?

SP: Wichtig sind die Eigenschaften der beiden Standorte. Osnabrück ist eine sehr forschungsstarke FH und Witten-Herdecke ist eine sehr junge Universität mit wenigen Berührungsängsten zur FH. Damit ließ sich unser Anliegen in beiden Hochschultypen gut platzieren. Und, wir haben von Anfang an klare Strukturen geschaffen, an beiden Standorten, damit nicht eine Institution hinterher die Lorbeeren erntet.

S-W: Wir haben über die Kooptation bzw. die Gastprofessuren die Möglichkeit als FH-Professoren eine Erstbetreuung zu übernehmen und das ist etwas, was absolut nicht selbstverständlich ist an Universitäten, und räumen im Gegenzug natürlich auch den Kollegen ein, hier eine Gastprofessur zu übernehmen. Wir arbeiten im Forschungskolleg die ganze Zeit sehr paritätisch, zum Beispiel in Form von Tandembetreuungen. An jedem Standort ist eine Postdoktorandin tätig, die auch standortübergreifende Angebote realisieren. Das alles ist nicht selbstverständlich, obwohl Unis eine Pflicht zur kooperativen Promotion haben.

Welches Angebot haben Sie Ihren Promovierenden gemacht?

S-W: Im Prinzip sind wir ein Graduiertenkolleg. Einmal im Quartal gibt es ein Kollegtreffen, mit einem externen Referenten, weil unsere Fragen natürlich auch Bezüge zu anderen Wissenschaften haben. Darüber diskutieren wir in zweitägigen Arbeitssessions. Den Kollegiaten garantiert diese Struktur ein Vorankommen, sie profitieren vom Austausch. Oft bilden sich kleinere Arbeitsgruppen. So ist hinterher auch das Arbeiten in der Forschung. Das macht man nicht allein in seinem Kämmerlein, sondern mit einer Community und die muss man sich suchen. Aus diesem Grund bieten wir immer einen Forschungsaufenthalt im Ausland an. In Deutschland sind Pflege- und Hebammenwissenschaften sehr junge Wissenschaftsbereiche ohne flächendeckende akademische Umsetzung. Deshalb sind internationale Netzwerke für uns wichtig.

Die Promovierenden  der 1. Förderphase von FamiLe besetzen mittlerweile einige Professuren …

S-W: Wenn wir den Forschungsschwerpunkt „IsQua“ dazuzählen, für den wir bereits gemeinsam Promovierende betreuten, dann sind allein daraus drei Professuren erwachsen. Aus unserer Gruppe in Osnabrück konnten wir acht Professuren bundesweit besetzen und weitere stehen in den Startlöchern. Unsere Promovierten bringen unglaublich viel Berufserfahrung mit, oft 20, 25 Jahre als leitender Pfleger oder als Hebamme. Ihre wissenschaftliche Karriere führten sie parallel dazu, hier in der Promotion zu Ende. Sie haben also in unterschiedlichen Einrichtungen gearbeitet und sind jetzt in Professuren und initiieren Studiengangentwicklungen oder auch Forschungsprojekte.

Was im Kolleg erforscht wurde wird also Eingang in Lehre und Forschung finden. Wie ist es um einen direkten Theorie-Praxis-Transfer der Forschungsergebnisse bestellt?

SP: Alle Promotionen berücksichtigen die praktische Relevanz. Pflege- und Hebammenwissenschaften sind praktische Angelegenheiten und wir fragen immer, was hat das jetzt für Konsequenzen mit Blick auf die Verbesserung der Versorgung von zum Beispiel Frauen im Kreißsaal oder Vätern auf Intensivstationen oder pflegenden Angehörigen? Die Promovierenden haben ganz klare Vorstellungen davon, was sich verbessern lässt. Das ist keine praxisferne Forschung die wir machen, das geht gar nicht.

Die Promovierenden sind alle berufstätig. Sicherlich fließen auch auf diesem Weg Erkenntnisse aus der Forschung in die Praxis …

S-W: Zu nennen wäre eine Absolventin, die jetzt als Nachwuchsprofessorin an der Fachhochschule Münster lehrt. Sie hat zu Kindern mit lebenslimitierenden Erkrankungen geforscht und jahrzehntelang als Kinderkrankenpflegerin gearbeitet, auch in der Hospizversorgung. Sie kennt die Praxis aus dem ‚ff‘ und wird ihre Erfahrungen garantiert in ihre Studiengangentwicklung einbringen. Und sicherlich auch weiter dazu forschen und Maßnahmen entwickeln. Die Früchte werden später tragen. Das ist nicht unmittelbar mit Abschluss der Promotion der Fall.

Können Sie nach vielen Jahren Forschung allgemeingültige Aussagen dazu treffen, wie Familien schwierige Lebensphasen meistern? Ich denke da zum Beispiel an ein stabiles familiäres Umfeld?

SP: Nein, das kann man nicht sagen und das sollte man auch nicht tun, weil die gesellschaftlichen Realitäten andere sind. Denken wir zum Beispiel an die Großfamilie, die wir seit Jahrzehnten so nicht mehr haben. Wir können nicht an diese appellieren, wenn wir gleichzeitig wissen, Mobilität ist angesagt und Familien atomisieren sich, alle sind sie hier, da und dort. Kommen Krankheit oder Pflegebedürftigkeit dazu, kann das System explodieren oder auch nicht. Verstehen, was die Herausforderung ist, darum geht es uns! Wir haben früher viel zu oft die Familienangehörigen instrumentalisiert, Druck ausgeübt, damit sie das jetzt stemmen. Wir drehen den Blick um und möchten verstehen, was Familien brauchen, damit sie weiter Familie sein können.

S-W: Wir blicken aus einer fachwissenschaftlichen Ebene auf diese Themen, wir geben also keine direkte Lebenshilfe. Aber vielen Betroffenen ist bereits geholfen, wenn sie wissen, dass ihre Problemlage gesehen und verstanden wird. Oftmals richten sich die Erkenntnisse der Arbeiten auch an die Berufsgruppen, zum Beispiel, Eltern stärker zu sehen. Oder Eltern nach extremer Frühgeburt besser in die Grundpflege ihrer Kinder zu integrieren. Das verlangt ein Verständnis dafür, wie Eltern das erleben. Mit diesen Erkenntnissen in den pflegerischen Alltag zu gehen und zu sagen, wie können wir auch in einer neonatologischen  Einrichtung einen bequemen Stuhl und einen separaten Raum für Eltern und Kinder anbieten, um ein Familienleben überhaupt zuzulassen, das ist den Promovierenden ein Anliegen.

Welche Forschungsergebnisse haben Sie überrascht?

SP: Ich hatte ein großes Aha-Erlebnis, als ich mit einer Doktorandin und einem Doktoranden auf einem soziologischen Kongress in London war. Dort wurde mir klar, was wir mit Familie in den gesundheitswissenschaftlichen Disziplinen immer tun, ist, ihnen noch eins drauf zu geben. Wir instrumentalisieren sie und verlangen alles Mögliche. Aber wir fragen nie, was brauchen sie denn? Um diesen Perspektivwechsel geht es mir. Außerdem ist mir ganz klar geworden, Krankheit ist immer eine Bedrohung für die Familie, immer. Es ist nie eine Aufgabe nur eines Individuums. Die Familie ist damit konfrontiert, sie muss eine Antwort geben.

S-W: Genau daran müssen wir unsere Versorgungsangebote ausrichten. Aber davon sind wir noch Lichtjahre entfernt. Von daher ist der erste Schritt, einen Paradigmenwechsel einzuläuten, sowohl in der Pflege als auch im Hebammenwesen! Das primäre Angebot richtet sich bislang immer nur an die unmittelbar Betroffenen und nicht an die Familie.

Was müsste sich politisch ändern, damit es zu diesem Paradigmenwechsel kommt?

SP: Die Familie wird in der Gesetzgebung nicht wahrgenommen,  es gibt immer nur „den Erkrankten“ oder „die mit dem Versorgungsbedarf.“ Zum Beispiel spricht die Pflegeversicherung klassisch von „den pflegenden Angehörigen“. Wir sagen halt, stopp, es gibt sogar Kinder, die pflegen, an die denkt ihr gar nicht, denen müsst ihr auch helfen. Deshalb spiegeln wir im Moment ganz deutlich, wie diese Problemlagen tatsächlich aussehen. Wir sind weit entfernt von einer Familienmedizin. Wer Familienmedizin betreibt, also die Weiterentwicklung von Hausarztmedizin und Allgemeinmedizin, führt ähnliche Diskussionen. Die verstehen uns ganz schnell, weil sie sagen, wir müssen mit den Familien arbeiten, da entscheidet sich, ob sie das bewältigen.

S-W: Wir sorgen mit dem Forschungskolleg zwar für den wissenschaftlichen Nachwuchs, damit Professuren besetzt werden können. Aber wir sind in den klinischen Einrichtungen in Deutschland nicht weit genug bei der Entwicklung von Stellen, die eben genau diese Expertise vorsehen. Wer wissenschaftlich qualifiziert ist, weiß, wie man Impulse aus der Berufspraxis aufgreifen und systematisch beforschen kann. Sie sind fähig die klinische Versorgungspraxis an diesen Ergebnissen auszurichten. In Witten haben wir eine Postdoktorandin im Kolleg, die in der Pflege als Brustkrebsspezialistin gilt. Sie besetzt eine Stelle in einem großen onkologischen Center bei der es darum geht, die Betreuung aus pflegewissenschaftlicher Sicht zu verbessern. Das sind die Stellen, die wir perspektivisch brauchen, da stehen wir noch ganz am Anfang.

Auf der Fachtagung referiert mit Rahel Naef eine klinische Pflegewissenschaftlerin des Universitätsspitals Zürich, sie besetzt so eine skizzierte Position …

S-W: Die Schweiz ist weit in der wissenschaftsgestützten Praxisentwicklung, sie beschäftigen einzelne Pflegewissenschaftler in Krankenhäusern, zum Beispiel wenn es um chronische Wunden geht oder auch in der Onkologie. Frau Naef hat sich zum Beispiel damit auseinandergesetzt, wie eine Familienorientierung im Krankenhaus umgesetzt werden kann. Die Bedeutung der Familie für Pflege- und Hebammenwissenschaft in der Versorgung zu verankern, das wäre mein Wunschszenario.

Zur Person:

Prof. Dr. Friederike zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein ist Professorin für Pflegewissenschaft und Hebammenwissenschaft an der Hochschule Osnabrück; Inhaberin der Forschungsprofessur familienorientierte geburtshilfliche Versorgung (FaGeV), wissenschaftliche Leiterin des Verbundes Hebammenforschung, Sprecherin des BMBF geförderten kooperativen Forschungskollegs Familiengesundheit im Lebensverlauf – FamiLe; Sprecherin des Forschungsschwerpunkts IsQua mit Graduiertenförderung und Mitglied im Nationalen Wissenschaftsrat.

Prof. Dr. Wilfried Schnepp ist Professor an der Fakultät für Gesundheit (Department für Pflegewissenschaft) an der Universität Witten-Herdecke und hat den Lehrstuhl für familienorientierte und gemeindenahe Pflege inne, sowie Sprecher des BMBF geförderten kooperativen Forschungskollegs Familiengesundheit im Lebensverlauf – FamiLe.

Von : Isabelle Diekmann