GEva Select
Aktuelles
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Mit dem 31.08.2014 ist das Forschungsprojekt GEva-Select – Gesetzesevaluation von Selektivverträgen beendet. Die Ergebnisse des Projektes können Sie u. A. folgend finden.
Die Integrierte Versorgung – warum kommt sie nicht in Schwung?
Die Integrierte Versorgung bietet Chancen, doch Ärzte und Krankenkassen sehen Hemmnisse für ihre Umsetzung. Die Hürden sind nicht neu, bisher jedoch unüberwunden. Außerdem löst die Integrierte Versorgung nicht geplante Ausweichstrategien der Adressaten aus.
Eine Ursachenforschung der Hochschule Osnabrück.
Seit dem Jahr 2000 ist die Integrierte Versorgung (IV) als Selektivvertrag (1) neben dem kollektivvertraglichen System möglich. Durch sie strebt der Gesetzgeber die Integration der Versorgungssektoren, eine verbesserte Koordination der Behandlungsabläufe und eine Qualitätsoptimierung der Gesundheitsleistungen an. Weitere gesetzgeberische Ziele sind die bevölkerungsbezogene Flächendeckung der Versorgung, ihre Wirtschaftlichkeit und die verstärkte Ausrichtung der Versorgung an den Patientenbedürfnissen (2-5). Die speziellen Versorgungsverträge im Angebot der Krankenkassen sollen außerdem den qualitätsorientierten Wettbewerb zwischen den Kostenträgern anregen (3, 4). Krankenkassen schließen die IV-Verträge mit Ärzten und Krankenhäusern ab.
Die in das Konzept gesetzten Erwartungen erfüllen sich allerdings nicht. Die Zahl beendeter IV-Verträge nahm nach Auslaufen der Anschubfinanzierung und Einführung des Zusatzbeitrages zunächst zu (6). Die Hochschule Osnabrück führte daher im Rahmen des Projektes GEva Select – Gesetzesevaluation von Selektivverträgen unter der Leitung von Prof. Dr. Klaus Theuerkauf und Prof. Dr. Winfried Zapp eine wissenschaftliche Ursachenforschung zur Integrierten Versorgung durch.
Die Kernergebnisse: Eine Integrierte Versorgung mit Leistungen der Regelversorgung wird bisher wenig umgesetzt, oft handelt es sich um sogenannte Add-on-Verträge. Die Versorgungsqualität ist zudem schwer zu messen. Als größtes Hindernis für die Integrierte Versorgung erscheint jedoch die Bereinigung der Gesamtvergütung um selektivvertragliche Leistungen.
Die Forschungsintention einer Gesetzesevaluation ist es, die Ziele der Normadressaten – hier die der Krankenkassen, der Vertragsärzte, der Krankenhäuser und der Patienten – mit denen des Gesetzgebers abzugleichen, um auf mögliche Diskrepanzen schließen zu können (7). Daraus resultiert für das Projekt GEva Select die Forschungsfrage: Welche Einflussgrößen wirken einerseits fördernd und andererseits hemmend auf das Erreichen der Ziele des Gesetzgebers für die Integrierte Versorgung? Gleichzeitig sind sogenannte Nebenfolgen aufzudecken. Nebenfolgen sind unvorhergesehene oder unerwünschte Effekte der Gesetzgebung (7).
Das Vorgehen: Ende 2012 wurden mit Hilfe leitfadengestützter Experteninterviews zehn in der Vertragsgestaltung und -umsetzung erfahrene Mitarbeiter von Krankenkassen, sechs niedergelassene Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen und fünf Patienten-Selbsthilfeorganisationen zu ihren Erfahrungen mit der Integrierten Versorgung befragt. Bei den Krankenkassen handelte es sich um zwei große bundesweite Ersatzkassen, zwei große Ortskrankenkassen, zwei kleinere geöffnete Betriebskrankenkassen und eine dazugehörige Vertragsarbeitsgemeinschaft. Unter den Ärzten waren Anbieter von operativen Kernleistungen einer Integrierten Versorgung, aber auch Fachärzte, die als Zuweiser für stationäre Kernleistungen die Vor- und Nachsorge übernehmen, sowie ein Allgemeinarzt, der sich mittels der Integrierten Versorgung auf ein Heilverfahren spezialisiert hat. Bei den Patientenvertretern handelte es sich um Mitglieder einer Selbsthilfegruppe sowie Gruppenleiter bzw. Vorsitzende von Selbsthilfeorganisationen. Die Interviewthemen orientierten sich gemäß der Forschungsfrage an den Zielkategorien des Gesetzgebers: Verbesserung der Versorgungsqualität, Steigerung der Effizienz und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung, Ausrichtung an den Bedürfnissen der Patienten und eine sektorenübergreifende Vernetzung, also eine verbesserte Zusammenarbeit der Ärzte untereinander.
Ergebnisse im Detail: Die qualitative Untersuchung zeigte, dass die Ziele des Gesetzgebers und die Vorstellungen der Normadressaten übereinstimmen, die Umsetzung der Integrierten Versorgung jedoch oft eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte Richtung einnimmt.
Bezüglich der Ziele Versorgungsqualität und Ausrichtung der Versorgung an den Patientenbedürfnissen sind sich die Befragten mit dem Gesetzgeber einig, dass mit der Integrierten Versorgung eine weitere Verbesserung erreicht werden soll. Im Ergebnis sehen die interviewten Leistungserbringer in den Verträgen auch eine Wertschätzung ihrer Qualitätsarbeit. Die IV ermögliche eine am Versichertenbedarf orientierte Auswahl eines Versorgungsbereiches und das Angebot innovativer Strukturen, so Kassenvertreter. Einige Kassen greifen den Aspekt der Patientenpartizipation direkt in ihrer Vertragsgestaltung auf: Die Beteiligung des Patienten bei der Abwägung von Behandlungsoptionen, aber auch das Unterstützen bei Verhaltensänderungen kann eine sich aus dem Vertrag ergebende Anforderung sein. Viele Verträge beinhalten daneben auch Anforderungen an die persönlichen Qualifikation der beteiligten Ärzte, zum Beispiel Facharztstatus und daraus resultierend der Eintritt in bestimmte Fachgesellschaften, bestimmte Fort- bzw. Weiterbildungen oder der Nachweis über eine Mindestoperationszahl in den vergangenen drei Jahren. Den interviewten Vertretern der Selbsthilfeorganisationen war nur selten eine Integrierte Versorgung in ihrem Umfeld bekannt. Sie selbst sehen sich als einen gleichwertigen Partner, der Verantwortung übernimmt und aktiv seinen Anteil zu einer verbesserten Zusammenarbeit aller Beteiligten beiträgt. Oft müssen sich Patienten mühsam ihre Ansprechpartner suchen, so die befragten Selbsthilfevertreter. Sind sie mit ihrem selbst aufgebauten Versorgungsnetz aus Ärzten und Therapeuten zufrieden, bleiben sie z.B. beim Arzt ihres Vertrauens und möchten diesen nicht für einen fremden Arzt wechseln, auch wenn er an einer IV teilnimmt.
Die erzielte Ergebnisqualität beurteilen die befragten Leistungserbringer als gleich gut zur Regelversorgung bis hin zu verbessert und in einem Ausnahmefall als unzureichend. Unter den interviewten Kassen führt rund die Hälfte Befragungen bei ihren Versicherten durch und schätzt die Qualität zumindest als gut bis besser im Vergleich zur Regelversorgung ein. Gleichwohl herrscht Konsens in allen Zielgruppen über die ausdrückliche Notwendigkeit einer validen Qualitätsmessung der Integrierten Versorgung. Ärzte wünschen sich fundierte Wirksamkeitsanalysen. Die Krankenkassen bemängeln jedoch, dass nur selten eine belastbare Evaluation der Ergebnisqualität möglich ist. Ursächlich für die überfällige Qualitätsevaluation sei neben mangelnden Ressourcen das Fehlen einer gesetzlichen Regelung zur Erhebung und Auswertung geeigneter medizinischer Parameter seitens der Krankenkassen. Außerdem lassen zu geringe Fallzahlen kaum valide Ergebnisdaten zu. Großer Aufwand und Datenschutzkriterien stehen somit der Notwendigkeit zur Messung der Versorgungsqualität entgegen.
Die interviewten Ärzte sehen die wirtschaftliche Attraktivität klar in der budgetunabhängigen und über den Vertrag definierten Vergütung zu einem absehbaren Zahlungszeitpunkt. Sie sei zudem aufwandsgerechter ausgehandelt. Auch die kooperative Arbeit mit den unterschiedlichen Leistungserbringern empfinden einige Ärzte als attraktiv.
Von den Krankenkassenmitarbeitern wird die Wirtschaftlichkeit der Integrierten Versorgung gegenüber der Regelversorgung sehr unterschiedlich eingeschätzt. Die Wirtschaftlichkeit der Verträge hingegen genau zu berechnen, ist laut gut der Hälfte dieser Befragten schwierig; insbesondere, wenn Einspareffekte in der finanzwirtschaftlichen Betrachtung des Gesamtunternehmens aufgezeigt werden sollen. Außerdem hängt das Streben nach Versorgungseffizienz offenbar von den unternehmenspolitischen Zielsetzungen der einzelnen Krankenkasse ab. Die individuellen Zielsetzungen reichen von reinen Kosteneinsparungen und/oder Qualitätsverbesserungen hin zum Angebot von attraktiven Leistungen. Solchen Leistungen wirken zwar im Wettbewerb um Versicherte; sie bieten aber versorgungstechnisch keine Fortschritte und sind extra zu vergüten (add-on). Die IV wird hier zwar als Wettbewerbsinstrument angewendet. Einen echten Qualitätswettbewerb mit Versorgungsangeboten der Regelleistung, wie es das Ziel des Gesetzgebers war, bewirkt sie so jedoch nicht. Andere Kassen betonen hingegen den Qualitätswettbewerb durch bessere Versorgungsstrukturen und bessere Versorgungsangebote über die Integrierte Versorgung. Ein Experte eines großen bundesweiten Kostenträgers beschreibt, dass seine Kasse einen Markenwert über „charakteristische überregionale Versorgungsmodelle“ erzielen möchte, und kategorisiert die IV so als wichtiges Kundengewinnungs- und -bindungsinstrument.
Im Rahmen der IV-Vergütung ist immer wieder die Bereinigung des Behandlungsbedarfs gemäß § 140d SGB V zur Sprache gekommen. Das Ergebnis der Untersuchung zeigt: Fast alle der befragten Experten der Krankenkassen empfinden die Bereinigung als eines der größten und nachhaltigsten Hemmnisse für die Integrierte Versorgung. Infolge der Bereinigung wird die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung der Kassen um die Leistungen von bestimmten Selektivverträgen reduziert. Somit werden die Mittel für die IV aus dem Budget der Kassenärztlichen Vereinigung entnommen. Daraus resultiert ein Konflikt in den Bereinigungsverhandlungen zwischen den Kostenträgern und den Kassenärztlichen Vereinigungen. Die Verhandlungen offenbarten sich als äußerst schwierig, was sich auf die teilweise ohnehin belasteten Beziehungen zwischen Kostenträgern und Vertretern der Ärzte auszuwirken droht. Außerdem geraten Informationen über Vertragsspezifika an konkurrierende Kassen, da die Verhandlungen gemeinsam je Kassenart durchgeführt werden. Zahlreiche der befragten Kostenträger verzichten aus diesen Gründen vollständig auf IV-Verträge über Leistungen der Regelversorgung, da diese eine Bereinigung nach sich ziehen. Stattdessen konzentrieren sie sich auf zusätzlich zu vergütende Add-on-Konzepte außerhalb der Regelleistungen. Dies ist im Sinne einer Gesetzesevaluation als weiterer unerwünschter Nebeneffekt einzuordnen: Ziel des Gesetzgebers waren und sind umfassende, bestenfalls sektorenübergreifende Verträge, die vornehmlich die Koordination und Effizienz der (bestehenden) Versorgungsleistungen optimieren sollen.
Darüber hinaus betreibe das Bundesversicherungsamt nach dem Verständnis einiger Kostenträger eine übersteigerte Vertragsprüfung, deren Vorgaben z. T. noch aus Zeiten der Anschubfinanzierung stammten (Vorlagepflicht nach § 71 Absatz 4 SGB V). Die eigentlich beabsichtigte Vertragsfreiheit werde so per se konterkariert.
Dargestellt wurde ein Ausschnitt aus den Untersuchungsergebnissen. Im stationären Sektor kann der Anreiz, sich an einer Integrierten Versorgung zu beteiligen, durch einen geringeren Erlös unter DRG-Niveau und die Übernahme von Garantieleistungen, die ein höheres finanzielles Risiko bedingen, deutlich minimiert sein. Ebenfalls wird eine Leistungsverschiebung in den ambulanten Sektor befürchtet, so Teilnehmer des Experten-Workshops, der im Februar dieses Jahres zum Projekt GEva Select an der Hochschule Osnabrück stattfand. Die Teilnehmer entstammten unter anderem aus dem Bereich der Kostenträger, des stationären Sektors sowie von Beratungs- und Dienstleistungsunternehmen des Gesundheitswesens.
Die weitere Forschung bei GEva-Select wird sich auf die Hürde der Budgetbereinigung konzentrieren. Das seit langem bestehende und bekannte Problemfeld der Bereinigung der ambulanten ärztlichen Vergütung wurde auch vom Sondergutachten 2012 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in ihrer Problematik für die Beteiligten der selektivvertraglichen Gestaltung und Umsetzung erörtert (6). In Folge der Verhandlungen zwischen den Interessenvertretern der Kostenträger und der Leistungserbringer findet eine nicht allseits akzeptiert Umverteilung der finanziellen Mittel statt. Darin ist ein Verteilungskonflikt erkennbar. Das Verhältnis zwischen den Verhandlern gilt als nachhaltig belastet; eine Konfliktlösung ist erschwert. Auf einen Lösungsansatz, der weitere inhaltliche Vorgaben durch den Gesetzgeber beinhaltet, wird bewusst verzichtet. Zumal der Gesetzgeber mit der Rücknahme der Rahmenverträge für die IV bereits selbst die hemmende Wirkung eines „Zuviel“ an gesetzlichen Regelungen erkannt hat. Vielmehr wird der Ansatz einer Lösung in Eigentätigkeit verfolgt. Dieser geht davon aus, dass eine selbstständige Lösungsfindung auf eine höhere Akzeptanz der Normadressaten stößt. Insbesondere nachhaltige Kommunikations- und Verhandlungstechniken liegen diesem Konzept zu Grunde. Sie münden in eine methodische Hilfestellung, damit die Verhandlungspartner „besser“ zu einer „guten“ Lösung ihres Verteilungskonfliktes kommen. Auf diese Weise soll den geschilderten Hürden begegnet werden, damit die Integrierte Versorgung stärker Leistungen der Regelversorgung beinhaltet.
Das Projekt wird finanziert aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung und des Landes Niedersachsen.
1. Definition bei Theuerkauf K: Direktverträge und Wettbewerb in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2011; 24: 922-27.
2. Drucksache 14/1245: Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000. 1999.
3. Drucksache 15/1525: Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung. 2003.
4. Drucksache 16/3100: Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung. 2006.
5. §140a, Absatz 1 ff. Sozialgesetzbuch V. Zuletzt geändert durch Art. 3 G v. 26.6.2013 Bundesgesetzblatt 1738.
6. Drucksache 17/10323: Sondergutachten 2012 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. 2012.
7. Böhret C, Konzendorf G: Handbuch Gesetzesfolgenabschätzung (GFA). Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften. Baden-Baden: Nomos 2001.
Verhandeln im Bewertungsauschuss – Die zweite qualitative Untersuchung
Aus der ersten empirischen Phase des Projektes GEva Select Gesetzesevaluation von Selektivverträgen galt es zunächst Kernergebnisse zu ermitteln. Unter anderem wurde als gravierende Hürde für die Etablierung von Selektivverträgen die Bereinigung des Behandlungsbedarfs um die selektiven Leistungen nach § 140d SGB V identifiziert. Die Vertragspartner, die Kassenärztliche Vereinigung und die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich, haben den Behandlungsbedarf nach § 87a Abs. 3 Satz 2 SGB V entsprechend der Zahl und der Morbiditätsstruktur der an der integrierten Versorgung teilnehmenden Versicherten sowie dem im Vertrag nach § 140a vereinbarten Versorgungsbedarf zu bereinigen (§ 140d SGB V). Die Pflicht zur Budgetbereinigung für Leistungen aus dem Regelleistungskatalog löst einerseits ökonomische und andererseits sozio-psychologische Hemmnisse aus (1). Nicht nur die Interviewpartner der ersten qualitativen Erhebung im Rahmen des Forschungsprojektes, sondern auch die Kooperationspartner des Projektes GEva Select berichteten eindrücklich von schwierigen Budgetverhandlungen. Auf diese Problemkonstellation wurde der nachfolgende Forschungsprozess fokussiert.
Zwar umfasste das Forschungsfeld der ersten qualitativen Erhebung die Landesebene und zeigt dort Einigungserschwernisse in den Bereinigungsverhandlungen zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen. (Das Verhältnis zwischen den Verhandlern ist nach Darstellung der Interviewpartner dort nachhaltig belastet und eine Konfliktlösung in den Verhandlungen ist somit erschwert.) Die Vorgaben für diese Verhandlungen werden jedoch auf Bundesebene gesetzt. Der Bewertungssauschuss Ärzte handelt sie im Rahmen der Regelsetzung über die vertragsärztliche Vergütung aus. Verhandlungen finden dort zwischen Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und GKV-Spitzenverband statt. Aus diesem Grund setzt das Lösungskonzept zunächst an den Verhandlungen des Bewertungsausschusses an. Das Konzept wurde also auf dieses Setting beispielhaft ausgerichtet, stellvertretend für Verhandlungen der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens.
Als Regelungsalternative wurde ein Ansatz verfolgt, der eine Lösung möglichst in Eigentätigkeit zur Konfliktprävention und -intervention in Verhandlungen vorsieht. Dieser Ansatz geht von der Annahme aus, dass eine selbstständige Lösungsfindung der Normadressaten auch auf eine höhere Akzeptanz bei ihnen stößt. (2) Dazu wurden nachhaltige Kommunikations- und Verhandlungstechniken einem Konzept zu Grunde gelegt, welches die Verhandlungspartner in ihrer konstruktiven Verhandlungsführung stärken soll.
Die Annahme ist: Die Erleichterung einer eigentätigen Lösungsfindung wird sich bestenfalls auf die Qualität der ausgehandelten Vorgaben auswirken. Sodann wird sie auch auf die Verhandlungen auf der Landesebene, in denen diese Vorgaben umgesetzt werden müssen, positive Effekte haben.
Das „Konzept zum Stärken der Eigentätigkeit in Verhandlungen der Selbstverwaltung“ wurde vor Beginn der zweiten empirischen Untersuchung zunächst durch die Operationalisierung der Erkenntnisse aus Kommunikationstheorie und Verhandlungsforschung in einem ersten Entwurf erstellt. Dazu wurden nach einer Umfeldanalyse bekannte Routinen berücksichtigt, wie z. B. die Vorbereitung einer Bewertungsausschusssitzung durch das Institut des Bewertungsausschusses, die die Eigentätigkeit im Bewertungsausschuss stützen. In einer zweiten empirischen Phase sollte der Entwurf auf seine Praxistauglichkeit untersucht werden.
Das Verhandlungskonzept muss für die entsprechende Zielgruppe so praktikabel ausgestaltet werden, dass eine ausreichende Akzeptanz erreicht werden kann. Das Konzept sollte daher ex-ante evaluiert werden, um durch einen Dialog (Wissenschaft mit Vertretern der Selbstverwaltungsorganisationen) das Konzept weiterzuentwickeln. Es war somit Aufgabe der zweiten empirischen Untersuchung, Anknüpfungspunkte aus der Praxis zu ermitteln, die Praktikabilität des Entwurfes zu prüfen und Anpassungspotentiale zu identifizieren. Dabei sollten weitere bestehende Ansätze der Eigentätigkeit, die nicht über die Analyse des Regelungsfeldes ermittelt werden konnten, durch die Untersuchung identifiziert werden.
Die Praktikabilität des Konzepts war dementsprechend wichtigstes Prüfkriterium. Damit ist auch die Anschlussfähigkeit innerhalb des Settings des Bewertungsausschusses, aber auch zu anderen Bereichen zu prüfen. Als Ergebnisparameter sind Akzeptanz bzw. Wirksamkeit zu nennen. Letzteres konnte von vornherein in der geplanten Untersuchung kaum beurteilt werden. Die zugesprochene Praktikabilität beeinflusst jedoch die zu erwartende Akzeptanz. Auf sich abzeichnende oder angedeutete Nebenfolgen war während der Erhebung zu achten.
Es wurde eine qualitative Untersuchung von Verhandlungsbeteiligten/Experten aus dem Forschungsfeld durchgeführt, um Informationen aus deren Betriebs- und Kontextwissen über die Art und Weise der Verhandlungen zu erheben. Dazu wurden Experteninterviews durchgeführt. Ausgehend von den formulierten Untersuchungsfragen, wurde für die unterschiedlichen Interviewpartner jeweils ein halbstrukturierter Leitfaden erstellt.
Das Prüfkriterium Praktikabilität galt es im nächsten Schritt zu operationalisieren. Die Themenkomplexe des Leitfadens leiteten sich aus dem erarbeiteten „Konzept zur Erleichterung der eigentätigen Lösungsfindung“ ab.
Unsere Untersuchung zielte zunächst auf die Ermittlung des Verhandlungssettings im Bewertungsausschuss nach § 87 SGB V. Welche Erfahrungen haben die Befragten mit Eigentätigkeit gemacht? Was wird bereits praktiziert? Was wirkt hemmend? Was wirkt fördernd? Ziel der Fragen war hier: Welche Erfahrungen kann der Interviewpartner zu mit Verhandlungen aus seinem Setting beschreiben? Wie bewertet er seine Erfahrungen?
Darauf hin stellten die Interviewer Fragen zu Interventionen des Konzeptes. Ziel des Themenkomplexes: Einzelne Interventionsbausteine auf Praktikabilität, Anschlussfähigkeit und damit auch die Kompatibilität zu anderen Bereichen zu prüfen. Dazu sollte die Sicht des Interviewten eingeholt werden. Hier wurden z. B. Fragen zu bestehenden Verhandlungsstrukturen und -techniken gestellt. Dabei galt es auch Einstellungen und Kontextwissen einzuholen. Erfragt wurde hier u. A. das Verhalten bei Konflikten oder global "die Grundeinstellung zum Konflikt" (3).
Die Gespräche dauerten zwischen 30 und 60 Minuten. Die Teilnehmer der Untersuchung entstammten dem GKV-Spitzenverband, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, dem Institut des Bewertungsausschusses, dem Dachverband einer Kassenart, einer Kassenärztlichen Vereinigung und einer Innungskrankenkasse. Ein weiterer Interviewpartner agierte auf Anbieterseite für Dienstleistungen im Gesundheitswesen und berichtete von Verhandlungen zum Angebot seiner Leistungen. Nach einem Pretest wurden fünf Interviews und ein vom Leitfaden losgelöstes Gespräch durchgeführt. Die Interviewpartner verfügten über einen Einblick in das jeweilige Verhandlungsgeschehen auf der Bundes- bzw. auf der Landesebene.
Ein inhaltsanalytisches Vorgehen schloss sich der Untersuchung an. Die Auswertung der transkribierten Interviews erfolgte in Anlehnung an Gläser und Laudel (4) nach einer modifizierten Mayringschen (5) Methode mittels eines deduktiv abgeleiteten und induktiv ergänzten Kategoriensystems.
Die Auswertung basierte auf Oberkategorien, die im Auswertungsprozess weiter aufgeschlüsselt wurden: Bestehende Verhandlungsstruktur und -techniken, Eigentätigkeit zur Konfliktprävention, Eigentätigkeit zur Konfliktintervention, die Grundeinstellung zum Konflikt und die Konfliktkultur, Einschätzung des Regelungsumfeldes, Systemische/organisatorische Voraussetzungen
Im Folgenden handelt es sich um einen Auszug der Ergebnisse:
Bevor Themen zur Beschlussfassung in den Bewertungsausschuss („Vorstandsebene“) gehen, würden sie auf einer Fachebene in Arbeitsausschüssen vorbereitet. Sachfragen, bei denen auf Fachebene eine Einigung erzielt wurde, würden im Bewertungsausschuss direkt beschieden. Verhandlungsschwierigkeiten auf der Fachebene bezögen sich vorwiegend auf tiefergehende sachbezogene Fragen. Ist hier die Kommunikation gestört und können schon einfache Sachfragen wegen verhärteter Fronten nicht gelöst werden, gelänge dies bei schwierigeren Fragen schon gar nicht. Beratungsgegenstände, die auf Fachebene nicht gelöst werden konnten, gingen ebenfalls in den Bewertungsausschuss. Dort finde eine „zugespitzte Diskussion“ statt. Die Verhandler des Bewertungsausschusses würden durch ihre Experten auf der Fachebene im Vorfeld der Verhandlungen informiert, so ein Interviewpartner.
Die Interviewpartner sehen eher geringe Notwendigkeit der methodischen Hilfestellung beim Verhandeln „… verhandeln kann eigentlich jeder“. Den Verhandlern ist außerdem bewusst, dass sie aufeinander angewiesen sind; sie sähen sich immer wieder. „Ein vernichtender Sieg um jeden Preis fällt einem früher oder später wieder auf die Füße, so ein Interviewpartner. Sie sind daher grundsätzlich interessiert an der Findung einer Lösung, die keine „schwelenden Konflikte“ hinterlässt, welche sich wiederum negativ auf spätere Wiedersehen auswirken.
Der grundsätzlichen Einigungsbereitschaft steht jedoch die durch die Interviewpartner beschriebene Verhandlungsrealität gegenüber. In fast allen Interviews werden Konflikte beschrieben, die auch über die Sachauseinandersetzung hinausgehen. Eine Konfliktanalyse mit differenzierter Betrachtung von Sach- und Beziehungsebene ist nicht erkennbar. Ein Interviewpartner berichtet, dass Misstrauen zwischen den Verhandlungspartnern bestünde. Die Notwendigkeit zur Konfliktintervention wird hier gestellt, wird aber nicht angegangen. Insgesamt sei der Verhandlungsstil natürlich personenabhängig. Die Interviews lassen dennoch die Annahme zu, dass emotionales, lautstarkes Verhandeln zur Routine geworden ist.
In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der Vertraulichkeit in den Sitzungen deutlich. Interessengegensätze in der gemeinsamen Selbstverwaltung auszugleichen, könne von jeder Seite Kompromisse und Zugeständnisse erforderlich machen. Dass Einzelheiten aus den Sitzungen nicht nach außen dringen und man nicht genau beurteilen kann, wer welches Zugeständnis gemacht hat, sei wichtig.
Da in den Sitzungen des Bewertungsausschuss i. d. R. mehrere Themen behandelt würden, sei bei der Lösungsentwicklung bzw. Kompromissfindung ein Entgegenkommen auf unterschiedlichen Ebenen möglich. Dies sei „normales Verhandlungsgeschäft“- es würden „Lösungspakete“ geschnürt.
Die Interviews zeigen weiterhin: Sind die Erwartung des Verhandlers zu weit entfernt von denen des Gegenübers, droht der Verhandlungskommunikationsfaden zu zerreißen. Ein Interviewpartner legt dar, dass unrealistische Forderungen wie eine Kriegserklärung wirken könnten. Auf eine überhöhte Erwartung folge ein tiefer Fall. Die Erwartungen der Akteure stellten allerdings auch die „natürliche“ Grenze einer Verhandlungslösung dar. Die Interviewpartner schätzen nicht die Weise Verhandlungsführung als ausschlaggebend zur Verhandlungslösungsfindung, sondern die Art und Höhe der Erwartungen, die die Verhandler haben.
Sich intensiv, „vielleicht auch mal lautstark“, auf Verhandlungen auseinanderzusetzen stoße zwar manchmal auf Verwunderung jedoch nicht per Se auf Ablehnung. Es müsse eine Auseinandersetzung mit dem Ausloten gegenseitiger Grenzen möglich bleiben.
Im Laufe der Interviews kommt auch das Schiedsamt zur Sprache. Aus den Aussagen der Interviewpartner lässt sich eine grundsätzliche Akzeptanz für die gesetzliche Fallbackstrategie ableiten. Es bestehe jedoch eine höhere Zufriedenheit mit Ergebnissen, die eigenständig gefunden wurden. Eine gescheiterte Verhandlung gelöst durch Schiedsentscheidung könne eine Hypothek für die Zukunft sein. Insgesamt sei das Ergebnis durch einen Schiedsentscheid für die Verhandlungsgegner ungewiss und ggf. unerwünscht.
Die Ergebnisse zeigten weiterhin, dass die Verhandler vorrangig an der Eigentätigkeit in der Lösungsfindung interessiert sind. Probleme und Konflikte sollten nach Ansicht eines Interviewpartners „von Innen heraus“ angegangen werden.
U. a. aus wettbewerblichen Gründen gäbe es innerhalb der Partei der Kostenträger auch unterschiedliche Ansichten. Die innere Zerrissenheit innerhalb der Parteien mache eine Einigung schwieriger.
Ein strukturierter Erwerb von Schlüsselqualifikationen zur Verhandlungsführung und Konfliktbearbeitung konnte in der Untersuchung nicht identifiziert werden.
Verhandlungen scheitern somit: 1. Wenn Ausgangsinteressen zu konträr auseinanderliegen, und 2. an unzureichender Verhandlungsführung, weil Konflikte nicht aufgebarbeitet werden und die Beziehung belasten und dadurch gleichzeitig die konstruktive Konfliktlösung stark beeinträchtigen. Es gelingt nicht, den Konflikt so weit zu bearbeiten, dass ein chronischer Konflikt auf die konstruktive Ebene deeskaliert werden kann.
(1) Vgl. Studienergebnisse der ersten qualitativen Untersuchung GEva Select.
(2) Vgl. Eifert, M., §19 Regulierungsstrategien, Rn. 54, in: Hoffmann-Riem, W., Schmidt-Aßmann, E., Voßkuhle, A. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd.1,
Methoden - Maßstäbe - Aufgaben - Organisation, 2. Auflage, München 2006, S. 1319 - 1394.
(3) Vgl. dazu Glasl, F.; Konfliktmanagement - Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater, 10. Auflage, Stuttgart 2011, S. 105.
(4) Vgl. Gläser, J., Laudel, G., Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, 4. Auflage, Wiesbaden 2010.
(5) Vgl. Mayring, P., Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, 9. Auflage, Weinheim 2007.
Projektworkshop am 08.02.2013
Viele externe Projektpartner folgten der Einladung von Prof. Dr. Theuerkauf und Prof. Dr. Zapp und fanden sich für den ersten GEva-Select-Workshop in den Räumen der Hochschule ein. Zu dieser Gelegenheit stellten die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Juliane Siebert und Judith Mesner die Ergebnisse des ersten Forschungsabschnitts vor: Die qualitative Erhebung von Expertenmeinungen zu Hemmnissen und Chancen bei der praktischen Umsetzung der Integrierten Versorgung. Befragt wurden Krankenkassen, ambulant tätige Ärzte und Patienten mithilfe von leitfadengestützten Experteninterviews. Moderiert durch Prof. Dr. Theuerkauf diskutierte die Runde die Ergebnisse der Untersuchung und gab der Forschungsgruppe wertvolle Hinweise für die weitere Forschung. So konnte die Reflexion des eigenen Forschungsvorgehens durch erfahrene Akteure und Praktiker erfolgen.
Wir möchten uns an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich für das Kommen unserer Kooperationspartner sowie der Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats und die anregenden Gespräche bedanken. Auch unseren Interviewpartnern der qualitativen Untersuchung gilt ein besonderer Dank.
Integratives Verhandeln im Gesundheitswesen – Konzept zum Stärken der Eigentätigkeit in Verhandlungen der Selbstverwaltung
Unser Gesundheitssystem hat sich zu einer „Gesundheitswirtschaft“ entwickelt. Dort sind die zur Ausgabe bereitstehenden Gelder begrenzt. Die Akteure dürfen diese Ressourcen selbst aufteilen; dadurch sind Verteilungskonflikte an der Tagesordnung. Das kann als Nachteil der Selbstverwaltung angesehen werden – aber auch als Chance: Die Beteiligten können ihre Konflikte eigenständig lösen. Oft gelingt ihnen dies sehr gut. Eine Untersuchung der Hochschule Osnabrück hat jedoch gezeigt, dass ein wenig mehr Methodik die Verhandlungsergebnisse verbessern kann. Dieses Buch bietet für Verhandlungen in der Selbstverwaltung eine methodische Hilfestellung an. Grundlage sind Erkenntnisse aus der Kommunikations- und Konfliktforschung sowie der Verhandlungsführung. Zugeschnitten wurde die Methode auf den Bewertungsausschuss als eine Institution der Selbstverwaltung. Sie ist jedoch übertragbar auf andere Bereiche des Gesundheitssystems – und auch darüber hinaus.
Autoren: Klaus Theuerkauf, Winfried Zapp, Judith Mesner, Juliane Siebert
Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG Münster 2014
ISBN: 978-3-95645-272-7