Komplexes Fallverstehen und Ethik

Fakultät

Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (WiSo)

Version

Version 1 vom 13.06.2023.

Modulkennung

22B1752

Niveaustufe

Bachelor

Unterrichtssprache

Deutsch

ECTS-Leistungspunkte und Benotung

5.0

Häufigkeit des Angebots des Moduls

nur Wintersemester

Dauer des Moduls

1 Semester

 

 

Kurzbeschreibung

Hebammenberufliche Handlungssituationen weisen eine hohe Komplexität auf, die geprägt ist durch die unterschiedlichen Perspektiven aller Beteiligten mit deren jeweiligem individuellen situativen Erleben, den Vorverständnissen und Erfahrungen, den direkten fachwissenschaftlichen Erfordernissen sowie den expliziten und impliziten Kontext- und Rahmenbedingungen und damit verbundenen Handlungsspielräumen und Begrenzungen. Komplexität in diesem Verständnis schließt gleichwertig sich im hebammenberuflichen Alltag eröffnende verschiedene Fragestellungen und Konfrontationen in Bezug auf ethisch bedeutsame Entscheidungssituationen und konfliktbehaftete Szenarien ein. Für eine professionelle Bewältigung dieser situativen Komplexität bedarf es einer Fall- und Verstehens-Kompetenz im Sinne hermeneutischen Fallverstehens, um am Einzelfall mithilfe fallmethodischer Vorgehensweisen berufspraktische Erfahrungen aufzuarbeiten, Einzelfaktoren und Zusammenhänge bewusst zu machen und zu deuten sowie fach- und bezugswissenschaftlich begründet Entscheidungen zu treffen, zu reflektieren und zu verstehen. Im Kontext verschiedener hebammenberuflicher Handlungssituationen stehen somit im Mittelpunkt dieses Moduls neben der Vertiefung fallmethodischer Vorgehensweisen eine Erweiterung und Vertiefung ethischer Grundlagen sowie Denk- und Entscheidungsmodelle, um ethische Problemstellungen zu identifizieren, einzuordnen und zu reflektieren sowie Ethikberatungsansätze in deren Umsetzbarkeit in der hebammenberuflichen Praxis zu diskutieren.

Lehr-Lerninhalte

1. Theoretischer Bezugsrahmen

1.1 Komplexes Fallverstehen im hermeneutischen Sinne im Kontext der Hebammenarbeit - Vertiefungen zum Begriffsverständnis und der Bedeutung von „Hermeneutik“, „hermeneutischer Zirkel“ und hermeneutische Fallkompetenz

1.2 Verstehens- und Deutungsprozesse komplexer beruflicher Handlungssituationen im Kontext verschiedener Methoden zum Fallverstehen (z. B.: Fallarbeit, Falldialog, Rekonstruktive Fallarbeit, Biografische Fallarbeit, Reflexive Fallarbeit)

1.3 Ethik als Wissenschaft
1.3.1 Grundlagen, Grundsätze und Prinzipien der Ethik
1.3.2 Ethische Entscheidungsfindungsmodelle / Moralphilosophie
1.3.3 Ethische Probleme erkennen, analysieren, lösen

2. Praktische Anwendungsbezüge – Ethisches Handeln in komplexen Handlungssituationen im Hebammenalltag

2.1 Ethik in der Praxis im hebammenberuflichen Kontext: Ethikberatung, Ethikkommission, Ethikleitlinien, Ethik-Codex

2.2 Ethische und moralische Fragestellungen im Berufsfeld des Hebammenwesen, u. a.:
2.2.1 in den Bereichen der Reproduktionsmedizin, Pränataldiagnostik, Schwangerschaft, (später) Schwangerschaftsabbruch, Geburt, Frühgeburt/Frühgeborene, Krankheit, Behinderung und Tod
2.2.2 in konfliktträchtigen Bereichen der inner- und interdisziplinären Zusammenarbeit, Strukturen von Respektlosigkeit, Gewalt, Macht und Kontrolle, Spannungsfelder im Kontext ökonomischer, ökologischer und gesellschaftlicher Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen
2.2.3 Spannungsfelder und Dimensionen innerhalb der verschiedenen Hebammenrollen, z. B.: Vertraulichkeit, Schutz, Verantwortung und Mitverantwortung, Autonomie und Selbstbestimmung

Gesamtarbeitsaufwand

Der Arbeitsaufwand für das Modul umfasst insgesamt 150 Stunden (siehe auch "ECTS-Leistungspunkte und Benotung").

Lehr- und Lernformen
Dozentengebundenes Lernen
Std. WorkloadLehrtypMediale UmsetzungKonkretisierung
20VorlesungPräsenz oder Online-
15SeminarPräsenz oder Online-
10ÜbungPräsenz oder Online-
Dozentenungebundenes Lernen
Std. WorkloadLehrtypMediale UmsetzungKonkretisierung
35Veranstaltungsvor- und -nachbereitung-
35Literaturstudium-
20Prüfungsvorbereitung-
10Peer-Feedback-
5SonstigesArbeit am Berufs- und Lernportfolio
Weitere Erläuterungen

Die Lehr- und Lernformen fokussieren auf Wissen aneignende, Studierenden aktivierende und lernbegleitende Lehr-Lernformen. Vor dem Hintergrund der Inhalte und der Ziele des Moduls eines kontinuierlichen Praxis- und Wissenschaftsbezuges und der Vertiefung fallmethodischer Arbeitsweisen im Sinne hermeneutischen Fallverstehens sind folgende Methoden geeignet / zu empfehlen: Gruppenarbeit, Textarbeit, Diskussionen, Vorträge, studentische Beiträge, fall- und problemorientierte sowie reflexionsfördernde Methoden (z. B. anhand authentischer Fälle).

Benotete Prüfungsleistung
  • Fallstudie (schriftlich) oder
  • Fallstudie (mündlich) oder
  • Referat (mit schriftlicher Ausarbeitung)
Bemerkung zur Prüfungsart

Die Auswahl der benoteten Prüfungsart aus den vorgegebenen Optionen obliegt dem*der jeweiligen Prüfer*in gemäß den jeweils gültigen Bestimmungen im Allgemeinen Teil der Prüfungsordnung (ATPO) und der Studienordnung für den Bachelorstudiengang Midwifery. 

Prüfungsdauer und Prüfungsumfang

Für die im Modul zulässigen Prüfungsarten gelten jeweils die folgenden Orientierungswerte zum Umfang bzw. zur Dauer:

Fallstudie schriftlich: in der Regel 15 Seiten

Fallstudie mündlich: in der Regel 20 Minuten

Referat: in der Regel 20 Minuten mit schriftlicher Ausarbeitung 8-10 Seiten

Die Anforderungen werden in der jeweiligen konkreten Veranstaltung präzisiert.

Empfohlene Vorkenntnisse

Siehe „Zusammenhang mit anderen Modulen“ 

Wissensverbreiterung

Die Studierenden können die Grundprinzipien der Ethik, ethische Entscheidungsmodelle und Ansätze der Ethikberatung aufzeigen. Die Studierenden können Ursachen und Entstehungsfaktoren für konfliktbehaftete Szenarien im hebammenberuflichen Arbeitskontext erläutern. Die Studierenden sind in der Lage, sich mit speziellen ethischen Fragen in unterschiedlichen direkten und indirekten Bereichen der Hebammenpraxis kritisch auseinanderzusetzen und diese zu formulieren. Die Studierenden können verschiedene fallmethodische Vorgehensweisen und hermeneutische Denk- und Verstehensprozesse beschreiben.

Wissensvertiefung

Die Studierenden sind in der Lage, theoriegeleitet ethische Probleme im Kontext der hebammenberuflichen Praxis zu erkennen, zu analysieren und in einen Problemlöseprozess zu übertragen. Die Studierenden können in ethisch bedeutsamen Entscheidungssituationen unterschiedliche Perspektiven der Beteiligten einnehmen und von eigenen Perspektiven reflektiert abgrenzen. Die Studierenden können die Komplexität beruflicher Handlungssituationen erfassen und die Relevanz einzelner Faktoren unter Bezugnahme auf fallmethodische Vorgehensweisen für das Verstehen des Einzelfalls erläutern.

Wissensverständnis

Die Studierenden können sich zu verschiedenen Argumentationstypen normativer Ethik kritisch positionieren. Die Studierenden sind in der Lage, verschiedene Entscheidungs- und Problemlöseprozesse theoriegeleitet in deren hebammenberuflicher Relevanz einzuordnen.

Nutzung und Transfer

Die Studierenden können auf der Grundlage ethischer Prinzipien ihr fachliches Wissen nutzen, um Handlungsmöglichkeiten zu begründen. Die Studierenden können die Notwendigkeit ethischer Entscheidungsprozesse innerhalb komplexer beruflicher Situationen bestimmen und die Prozesse aktiv mitgestalten. Die Studierenden sind in der Lage, sich fach- und bezugswissenschaftliche Erkenntnisse in der beruflichen Praxis zugänglich zu machen. Die Studierenden sind in der Lage, selbständig Lösungswege und Lösungen für komplexe Situationen und Probleme zu entwickeln. Die Studierenden sind in der Lage, anhand fallbezogen erarbeiteter Erkenntnisse und durch begründete Generalisierung Handlungsalternativen zu entwickeln sowie gezielte Impulse und Denkanstöße für eine Veränderung der beruflichen Praxis abzuleiten.

Wissenschaftliche Innovation

Die Studierenden können die ethische Reichweite gesellschaftlicher Veränderungen und technischer Transformationen im Hebammenwesen erkennen. Die Studierenden sind in der Lage, im konkreten Fallbezug Fragestellungen zu identifizieren, Hypothesen zu entwickeln und gezielt wissenschaftliche Methoden zur Beantwortung der Fragestellungen anzuwenden. Die Studierenden können anhand fallbezogen erarbeiteter Erkenntnisse Impulse für weiteren fach- und bezugswissenschaftlichen Forschungsbedarf ableiten und Forschungsfragen formulieren.

Kommunikation und Kooperation

Die Studierenden können im kollegialen Austausch die ethische Dimension fachlicher Entscheidungen adäquat argumentieren. Die Studierenden sind in der Lage, fallbezogene Erfahrungen offen und reflektiert in den kollegialen Austausch und Diskurs zu überführen. Die Studierenden können die Bedeutung etablierter Möglichkeiten zur Bearbeitung und Reflexion beruflicher Fallsituationen auf unterschiedlichen Ebenen und im kollegialen Fachkreis argumentieren.

Wissenschaftliches Selbstverständnis / Professionalität

Die Studierenden können grundlegende Optionen ihres professionellen Handelns auf der Basis ihres ethisch-normativen Berufsverständnisses formulieren und sie im öffentlichen Diskurs vertreten. Die Studierenden sind in der Lage, eigene Vorverständnisse, Haltungen und Einstellungen im Kontext hebammenberuflicher Spannungsfelder und Fragestellungen zu reflektieren. Die Studierenden können methodengeleitetes Fallverstehen als Beitrag zur stetigen Weiterentwicklung und Veränderung beruflicher Praxis und Forschung in ihr berufliches Selbstverständnis integrieren.

Literatur

Die Literaturliste umfasst Vorschläge, die durch die Lehrenden ausgewählt, aktualisiert und erweitert werden:

Anzenbacher, A. (2012): Einführung in die Ethik. 4. Auflage, Düsseldorf: Patmos. Belobrow, N., Wicklein, M., Peter, E., Kubik, M.-T. (2014): Recht auf Leben - von Anfang an? Pränatale Diagnostik und Präimplantationsdiagnostik aus medizinischer, rechtlicher und ethischer Perspektive. Science Factory. München: GRIN. Bleisch, B. u. Büchler, A. (2020): Kinder wollen. Über Autonomie und Verantwortung. München: Hanser. Ensel, A. (2002): Hebammen im Konfliktfeld der Pränatalen Diagnostik. Zwischen Abgrenzung und Mitleiden. HGH Schriftenreihe 10. Karlsruhe: Hebammengemeinschaftshilfe e.V.. Garz, D. u. Raven, U. (2015): Theorie der Lebenspraxis. Einführung in das Werk Ulrich Oevermanns. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Griese, B. u. Griesehop, H. R. (2007): Biographische Fallarbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Gruber, H.-G. (2009): Ethisch denken und handeln. Grundzüge einer Ethik der Sozialen Arbeit. 2. aktualisierte und verbesserte Auflage. Kornwestheim: Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft. Heffels, W. M. (2021): Ethisch handeln in Helfenden Berufen: Eine handlungsorientierte Ein-führung. Stuttgart: Kohlhammer. Hille, H. (2011): Hauptsache gesund? Ethische Fragen der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik. München: Kösel. Hülsken-Giesler, M. (2016): Rekonstruktive Fallarbeit in der Pflege: Methodologie Reflexion und praktische Relevanz für Pflegewissenschaft, Pflegebildung und direkte Pflege. Universitätsverlag Osnabrück: V & R unipress. Jones, S. R. (2003): Ethik und Hebammenpraxis. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Hans Huber. Kunz, R. (2015): Wissen und Handeln in Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit: Empirische und theoretische Grundlegung eines neuen kasuistischen Ansatzes. Doctoral Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences. Limmer, C., Striebich, S., Tegethoff, D., Leinweber, J. u. Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi) (2020): Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe. Positionspapier. In: GMS Zeitschrift für Hebammenwissenschaft, Vol. 7. Maio, Giovanni (2018): Werte für die Medizin. Warum die Heilberufe ihre eigene Identität verteidigen müssen. München: Kösel. Maio, Giovanni (2017): Mittelpunkt Mensch- Lehrbuch der Ethik in der Medizin. Mit einer Einführung in die Ethik der Pflege. Stuttgart: Schattauer. Maio, Giovanni (2014): Geschäftsmodell Gesundheit - Wie der Markt die Heilkunst abschafft. Berlin: Suhrkamp. Maier, B. (2013): Ethik in der Gynäkologie und Geburtshilfe: Entscheidungen anhand klinischer Fallbeispiele. Berlin: Springer. Müller, B. (2017): Sozialpädagogisches Können: ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fall-arbeit. 8., von Ursula Hochuli Freud überarbeitete und erweiterte Auflage. Freiburg im Breisgau: Lambertus. Pieper, I., Frei, P., Hauenschild, K., Schmidt-Thieme, B. (2014): Was der Fall ist. Beiträge zur Fallarbeit in Bildungsforschung, Lehramtsstudium, Beruf und Ausbildung. Wiesbaden: Springer. Schockenhoff, E. (2013): Ethik des Lebens. Grundlagen und neue Herausforderungen. 2. Auflage, Freiburg: Herder. Schrems, B. (2019): Fallarbeit in der Pflege. Grundlagen, Formen und Anwendungsbereiche. 4., überarbeitete Auflage. Wien: Facultas. Schröder-Bäck, P. u. Kuhn, J. (Hrsg.) (2016): Ethik in den Gesundheitswissenschaften: eine Einführung. Weinheim: Beltz Juventa. Schübel, T. (2015): Grenzen der Medizin: Zur diskursiven Konstruktion medizinischen Wissens über Lebensqualität. Wiesbaden: Springer VS. Städter-Mach, B. (Hrsg.) (1999): Ethik im Umfeld der Geburtshilfe. Berlin: Springer. Steger, F., Ehm, S., Tchirikov, M. (2014): Pränatale Diagnostik und Therapie in Ethik, Medizin und Recht. Berlin: Springer. Steger, F. u. Orzechowski, M. (2018): Pränatalmedizin: ethische, juristische und gesellschaftliche Aspekte. Verlag Karl Alber. Tov, E.; Kunz, R. u. Stämpfli, A. (2016): Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit. Professionalität durch Wissen, Reflexion und Diskurs in Community of Practice. 2. überarbeitete Auflage. Bern: hep-Verlag. Zito, D. u. Martin, E. (2021): Selbstfürsorge und Schutz vor eigenen Belastungen für Soziale Berufe. Weinheim: Beltz-Juventa 

Zusammenhang mit anderen Modulen

Das Modul greift die Kompetenzentwicklung aus allen vorherigen Modulen im Studienverlauf auf, insbesondere aus den Modulen des Themenkomplexes „Wissenschaftsorientierung / Fallverstehen", und erweitert diese um die Fokussierung auf eine Vertiefung der hermeneutischen Fallkompetenz in komplexen beruflichen Handlungssituationen und im unmittelbaren Bezug zu ethischen Dimensionen. Damit steht das Modul in enger Verbindung zu den Modulen „Praxisprojekt in den Versorgungsbereichen der Hebamme“ sowie „Professionsentwicklung - Simulationstraining“ und „Professionsentwicklung – Familienarbeit“ des gleichen Semesters und bereitet mit dieser Kompetenzentwicklung prospektiv auf die Studienabschlussarbeit/ Bachelorarbeit vor.  

Verwendbarkeit nach Studiengängen

  • Midwifery
    • Midwifery, B.Sc. (01.03.2024)

    Modulpromotor*in
    • Kuhnke, Ulrich
    Lehrende
    • Hellmers, Claudia
    • Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Friederike
    • Kuhnke, Ulrich
    Weitere Lehrende

    zusätzlich weitere Mitglieder der Fachgruppe Pflege- und Hebammenwissenschaft