Motorrad-Humanschwingungen
Ermittlung der Schwingungsbelastung auf den Menschen beim Fahren von Motorrädern
Good Vibrations oder Belastung? Motorradfahrer/innen fühlen die Schwingungen und Vibrationen ihres Motorrads: Mal werden Sie als angenehm, mal als unangenehm empfunden. Aber wie stark sind diese Vibrationen und wie sind sie im Vergleich zu Grenzwerten, die in der Arbeitswelt gelten, zu beurteilen? Mit Schwingungsmessungen im Fahrbetrieb auf unterschiedlichen Motorrädern und mit einer Umfrage unter Motorradfahrer/innen wird den Motorad-Humanschwingungen auf den Grund gegangen.
Adamek, J.; Schröter, M.: Humanschwingungen an Motorrädern bei unterschiedlichen Fahrzuständen - Studie zu Hand-Arm- und Ganzkörperschwingungen.
Erschienen in VDI-Berichte 2277 zur 6. VDI-Tagung „Humanschwingungen“ 2016, Würzburg, 27.04.2016; S. 179-198, VDI-Verlag, Düsseldorf, 2016, ISBN 978-3-18-092277-5
Kontakt
Prof. Dr.-Ing. Jürgen Adamek (j.adamek@hs-osnabrueck.de)
Dipl. Wirt.-Ing. Marcus Schröter (m.schroeter@hs-osnabrueck.de)
Hintergrund
Beim Fahren von Motorrädern werden Fahrer/innen Vibrationen und Schwingungen ausgesetzt, die sowohl vom Motor als auch von Fahrbahnanregungen hervorgerufen werden. Der menschliche Körper reagiert auf mechanische Schwingungen und sollte nur bis zu einem gewissen Grad diesen Schwingungen ausgesetzt werden.
Die Höhe der Schwingungsbelastung beim Fahren von Motorrädern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig:
- Motorradmodell
- Fahrgeschwindigkeit
- Motordrehzahl
- Reifentyp und -druck
- Fahrbahnbeschaffenheit
- Fahrwerkseinstellung
- Greif- und Abstützkräften des/r Fahrers/Fahrerin
Für Personen, die berufsbedingt Schwingungen ausgesetzt sind, existieren Grenzwerte für Hand-Arm-Schwingungen und Ganzkörperschwingungen. Diese Grenzwerte können auch als Richtwert für nicht beruflich exponierte Personen dienen. Bei Überschreitung der Grenzwerte können bei längerer Einwirkung körperliche Beeinträchtigungen oder Schäden entstehen, wie allgemeines Unwohlsein oder Rückenbeschwerden bei Ganzkörperschwingungen oder auch die Weißfingerkrankheit bei Hand-Arm-Schwingungen. Zudem kann das Leistungsvermögen beeinträchtigt und damit die Unfallgefahr potentiell erhöht werden.
- Das Forschungsprojekt fokussiert sich sowohl auf beruflich motorradfahrende Personen als auch private Nutzer/innen.
- Ziel ist es, die im Fahrbetrieb auftretende Schwingungsbelastung zu erfassen, eine Größenordnung der Belastung für unterschiedlichste Motorräder und Fahrer/innen zu bestimmen und betroffene Personengruppen darüber zu informieren.
- Die Vergleichbarkeit der Motorräder untereinander ist in dieser Studie eingeschränkt möglich, da die untersuchten Motorräder zwar auf identischer Strecke mit gleichen Fahrvorgaben gefahren wurden, aber unterschiedliche Laufleistungen und unterschiedliche Pflege- bzw. Wartungszustände aufwiesen sowie von unterschiedlichen Fahrer/innen mit unterschiedlichen Fahrstilen gefahren wurden. Die ermittelten Daten stellen unter reproduzierbaren Randbedingungen die tatsächlich auftretenden Humanschwingungen von Fahrer/in- Fahrzeug-Kombinationen dar und repräsentieren damit eine Mindestbandbreite tatsächlich auftretender Belastungen beim Motorradfahren. Die untersuchten Motorräder wurden daher auch nicht speziell ausgewählt, sondern repräsentieren allgemein übliche Fahrzeuge.
- Umfrage unter Motorradfahrer/innen zum subjektiven Empfinden der Motorradvibrationen
- Messung der im Fahrbetrieb bei Motorrädern auftretenden Belastungen durch Vibrationen/Schwingungen
- Abdeckung einer großen Bandbreite von Fahrzeugen und Fahrer/innen
- Bestimmung der humanbewerten Beschleunigungen für Hand-Arm- und Ganzkörperschwingungen (ahv und awi)
- Ergänzend Bestimmung von Vibration-Dose-Value (VDV), Maximum Transient Vibration Value (MTVV) und Scheitelfaktor (Crest) für Ganzkörperschwingungen
- Information der interessierten Kreise durch Verfügbarmachung von Messdaten in einer öffentlich zugänglichen Datenbank (im Aufbau)
- Zusätzliche Messung der auftretenden Belastungen bei beruflich genutzten Motorräder, am Beispiel von Polizei und Johanniter Unfallhilfe
An der Umfrage haben insgesamt 217 Personen teilgenommen, davon 6% weiblich und 94% männlich.
- 83% der Fahrer/innen haben schon einmal körperliche Auswirkungen erfahren, die mit den Schwingungen der Motorräder zusammenhängen können.
- 12% der Fahrer/innen berichten von Durchblutungsstörungen der Hände („Weißfinger“).
- Ca. 2/3 der Fahrer/innen beurteilen die Vibrationen/Schwingungen als nicht oder wenig störend, obwohl über körperliche Auswirkungen berichtet wird.
- Vibrationen/Schwingungen werden insbesondere bei Autobahn- und Landstraßenfahrt wahrgenommen (hier findet der größte Teil der Fahrten statt).
- 27 verschiedene Motorräder
- Motor: 1-, 2- und 4-Zylinder
- Hubraum: 300 bis 1340 cm³
- Leistung: 20 bis 142 kW (27 bis 193 PS)
- Baujahr: 1967 bis 2014
- Laufleistung: 6 bis 250 tsd km
- Erfassung von Reifentyp und -druck
- 23 Fahrer/innen (w: 2, m: 21)
- Alter: 20 bis 66 Jahre
- Größe: 165 bis 193 cm
- Gewicht: 60 bis 110 kg
- Fahrerfahrung: 2.000 bis 350.000 km
- Wetter
- Trocken, Temperatur zwischen 8 und 29 °C
- Zusätzliche Messungen an Motorrädern von Polizei und Johanniter Unfallhilfe
- Ergänzung durch Reproduzierbarkeitsuntersuchungen und Parameterstudien zur Sensorposition
- Gesamtmessstrecke mit Datenaufzeichnung: ca. 2.500 km
- Beschleunigungssensoren an Lenker, Fußrasten und Sitzbank
- Erfassen der Schwingungen in allen drei Raumrichtungen
- Berechnung des frequenzbewerteten Effektivwerts für Hand-Arm-Schwingungen (Lenker) bzw. Ganzkörperschwingungen (Fußrasten und Sitzbank)
- Messverstäker und Datenaufzeichnungsgeräte werden in einer Sitzbanktasche auf dem Motorrad mitgeführt.
- Messabschnitte von je 5 bis 10 min Länge
- Konstantfahrt mit 50 km/h
- Konstantfahrt mit 90 km/h
- Konstantfahrt mit 130 km/h
- Fahrt auf kurviger Landstraße mit wechselnder Geschwindigkeit, Beschleunigungs- und Bremsvorgängen, bergauf und bergab
- Gute Fahrbahnbeschaffenheit auf den Konstantfahrtstrecken
- Gute bis mittlere Fahrbahnbeschaffenheit bei Landstraßenfahrt
Die aufgezeichneten Schwingungen werden für jeden Messabschnitt separat ausgewertet. Dazu werden die Hand-Arm-Schwingungen (an den Griffen) zunächst gefiltert (Frequenzbereich 6,3 bis 1250 Hz) und dann die Schwingungen der drei gemessenen Raumrichtungen x,y und z zu einem Gesamtwert a_hv zusammengefasst. Der Gesamtwert a_hv wird anschließend mit frequenzabhängigen Bewertungsfaktoren (gemäß EN ISO 5349-1) versehen, die die Empfindlichkeit des menschlichen Hand-Arm-Systems auf unterschiedliche Frequenzen abbilden. Der frequenzbewertete Schwingungsgesamtwert wird dann für die Beurteilung herangezogen.
Im Fall der Ganzkörperschwingungen (an Füßen und Sitz) erfolgt die Filterung für den Frequenzbereich von 0,8 bis 80 Hz und die Frequenzbewertung nach ISO 2631-1. Ausgewertet wird dann diejenige Schwingungsrichtung x, y oder z, die die höchsten Werte aufweist, wobei x- und y-Richtung vorab mit einem Faktor von 1,4 versehen werden, um die größere Empfindlichkeit des menschlichen Körpers für diese Schwingungsrichtungen hervorzuheben. Im vorliegenden Fall der Motorrad-Schwingungen ist es stets die z-Richtung (in Richtung der Fahzeughochachse, also senkrecht zur Fahrbahnoberfläche), die die höchsten Schwingungswerte zeigt. Daher wird allein die z - Richtung für die Beurteilung verwendet.
- Motorräder weisen im Vergleich zu einem Pkw deutlich höhere Schwingungswerte auf
- Auslöse- und Expositionsgrenzwerte der EU-Richtlinie 2002/44/EG (gilt für beruflich schwingungsexponierte Personen) werden erreicht und zum Teil deutlich überschritten (bezogen auf eine Belastungsdauer von 8 h am Tag).
Alle Ergebnisse können detailiert in einer Datenbank recherchiert werden:
Dort besteht auch die Möglichkeit einen individuellen Tagesexpositionswert zu bestimmen, wie er auch für beruflich schwingungsexponierte Personen verwendet wird (vgl. ⇒ Humanschwingungen bei beruflich genutzten Motorrädern ).
- Drei unterschiedliche Fahrer wurden am selben Tag, auf demselben Motorrad und denselben Messtrecken untersucht.
- Sensoren wurden zwischen den Messfahrten nicht demontiert, so dass Unterschiede hervorgerufen durch die Sensorbefestigung ausgeschlossen werden können.
- Auftretende Abweichungen (bezogen auf Fahrer 1)
- Hand-Arm-Schwingungen: zwischen +16 und -17%
- Ganzkörperschwingungen: zwischen +18 und -29%
- Abweichungen entstehen durch Unterschiede bei
- Fahrweise (Gangwahl, Stärke von Beschleunigungs- und Bremsvorgängen)
- Linienwahl (Unterschiedliche Anregung an verschiedenen Stellen der Fahrbahn)
- Sitzhaltung (Unterschiedliche Greif- und Abstützkräfte)
- Abweichungen durch Fahrereinfluss überwiegen die Spannbreite der Reproduzierbarkeitsuntersuchungen
- Jede/r Fahrer/in hat es "in der Hand", unabhängig vom Motorrad die Höhe der Schwingungsbelastung zu beeinflussen.
- Reproduzierbarkeitsuntersuchungen mit selbem Fahrzeug und selbem Fahrer
- Voruntersuchungen aus 2014 unter gleichen Fahrbedingungen, aber auf anderen Messstrecken als 2015
- Durchführung der Messfahrten verteilt über einem Zeitraum von drei Monaten
- Sensoren für jede Fahrt erneut montiert
- Abweichungen (bezogen auf Mittelwert)
- Hand-Arm-Schwingungen ( Messung an Griffinnenseite): +/- 7%
- Ganzkörperschwingungen: +10/-11% (Fußrasten); +6/-9% (Sitzbank)
- Messungen der Hand-Arm-Schwingungen an Griffinnenseite und Griffmitte weichen im Mittel um 6% ab
- Nach Norm DIN-EN-ISO-5349-2 ist an der Griffmitte zu messen
- Aus Sicherheitsgründen wird die Messung an der Griffinnenseite bevorzugt (keine Behinderungen oder Irritationen beim Bedienen des Fahrzeugs).
- Schwingungen vom Fahrzeug werden durch Anstoßen des Sensors durch Fahrer/in überlagert (z.B. an Fußrasten durch Schalt- und Bremsvorgänge)
- Erkennung des Vorgangs erfolgt durch Kontrolle des Zeitverlaufs der RMS-Werte (Root Mean Square) der frequenzbewerteten Beschleunigung an linker und rechter Fußraste
- Ausschläge links und rechts transient deutlich unterschiedlich: Beeinflussung durch Fahrer/in liegt vor
- Ausschläge links und rechts im Zeitverlauf vergleichbar: Schwingungen rühren vom Fahrzeug her
- Zeiträume mit transienten Unterschieden werden von der Auswertung ausgenommen.
- Hand-Arm-Schwingungen
- Frequenzbewertete Beschleunigungen von 10 m/s²
- Erreichen des Auslösewerts nach 0,5 h
- Erreichen des Expositionsgrenzwerts nach 2 h
- Frequenzbewertete Beschleunigungen von 4,0 m/s²
- Erreichen des Auslösewerts nach 3,1 h
- Erreichen des Expositionsgrenzwerts nach 12,5 h
- Frequenzbewertete Beschleunigungen von 10 m/s²
- Ganzkörperschwingungen
- Frequenzbewertete Beschleunigungen von 4 m/s²
- Erreichen des Auslösewerts nach 0,1 h
- Erreichen des Expositionsgrenzwerts nach 0,3 h
- Frequenzbewertete Beschleunigungen von 1,25 m/s²
- Erreichen des Auslösewerts nach 1,3 h
- Erreichen des Expositionsgrenzwerts nach 3,3 h
- Frequenzbewertete Beschleunigungen von 4 m/s²
In der EU-Richtlinie 2002/44/EG (Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (Vibrationen)) sind Grenzwerte für Hand-Arm-Schwingungen und Ganzkörperschwingungen angegeben
Ganzkörperschwingungen
- Frequenzbereich: 0,8 bis 80 Hz
- Auslösewert (Einwirkung über 8 Stunden)
- A(8) = 0,5 m/s²
- Bei Überschreitung ist der Arbeitgeber aufgefordert, die Gefährdungen durch Ganzkörperschwingungen für seine Beschäftigten zu überwachen und Präventionsmaßnahmen durchzuführen.
- Expositionsgrenzwert (Einwirkung über 8 Stunden)
- A(8) = 0,8 m/s² in z-Richtung (Körperhochachse)
- A(8) = 1,15 m/s² in x- und y-Richtung (Körperquerachsen)
- Ein/e Beschäftigte/r darf keiner Exposition oberhalb des Expositionsgrenzwerts ausgesetzt sein; bei Erreichen sind unverzügliche Maßnahmen durchzuführen.
Hand-Arm-Schwingungen
- Frequenzbereich: 6,3 bis 1250 Hz
- Auslösewert (Einwirkung über 8 Stunden)
- A(8) = 2,5 m/s²
- Bei Überschreitung ist der Arbeitgeber aufgefordert, die Gefährdungen durch Hand-Arm-Schwingungen für seine Beschäftigten zu überwachen und Präventionsmaßnahmen durchzuführen.
- Expositionsgrenzwert (Einwirkung über 8 Stunden)
- A(8) = 5 m/s²
Ein/e Beschäftigte/r darf keiner Exposition oberhalb des Expositionsgrenzwerts ausgesetzt sein; bei Erreichen sind unverzügliche Maßnahmen durchzuführen.