Wissenssnack Mittwoch, 7. August 2024

Können VR und KI einen Beitrag zum Kinder- und Jugendschutz leisten?

Die Zahl der Gefährdungseinschätzungen im Kinder- und Jugendschutz steigt. Für Fachkräfte eine Herausforderung, denn der Prozess ist komplex und hochsensibel. Ob und wie mit KI-basierten Trainings die Entscheidungskompetenz erhöht werden kann, erforscht an der Hochschule Osnabrück ein interdisziplinäres Team, mit, v.l. Michael Rau, Prof. Dr. Jan-David Liebe, Prof. Dr. Christof Radewagen, Prof. Dr. Julius Schöning und Jan-Oliver Kutza. (Hochschule Osnabrück/Aileen Rogge)

Forschungsprojekt Aid4Children entwickelt und erprobt KI-basierte Trainings für Gefährdungseinschätzungen im Kinder- und Jugendschutz  

Lesen Sie im Interview mit unseren drei Experten des Forschungsprojekts AId4Children (Hilfe für Kinder), Prof. Dr. Christof Radewagen, Prof. Dr. Jan-David Liebe und Prof. Dr. Julius Schöning, warum eine korrekte Gefährdungseinschätzung so wichtig aber gleichzeitig auch so schwierig ist, unter welchen Voraussetzungen KI und VR-Anwendungen Fachkräfte tatsächlich besser auf den Ernstfall vorbereiten aber auch, welche Grenzen und Risiken die Technik birgt.
 

Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Forschungsvorhaben?

Prof. Dr. Jan-David Liebe: AId4Children trägt zur Auseinandersetzung mit Fragen der digitalen Gesellschaft, insbesondere zum Umgang mit Künstlicher Intelligenz bei.

Prof. Dr. Christof Radewagen: Darüber hinaus stärkt das Projekt die öffentliche Wahrnehmung des Themas Kindeswohlgefährdung - eine der zentralsten Herausforderungen unserer Zeit.
 

Das Kindeswohl ist gefährdet, sagen Sie. Wie viele Gefährdungseinschätzungen erfolgen denn jährlich und wie ist die Entwicklung?

Radewagen: Die Zahl der Gefährdungseinschätzungen für Kinder und Jugendliche stieg von 2013 bis 2022 um über 70 Prozent auf 203.000 Fälle.
 

Was ist so herausfordernd an einer Gefährdungseinschätzung?  

Radewagen: Gefährdungseinschätzungen sind komplexe und hochsensible Verfahren, die von den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe eine umfassende Analyse der Situation der Minderjährigen und der Erziehungsberechtigten sowie möglicher Risikofaktoren erfordert. Hat das Kind ein Hämatom, weil es sich verletzt hat oder ist es Folge von Gewalteinwirkung durch einen Erziehungsberechtigten? Wie stelle ich das fest, ohne die Beziehung zu den Betroffenen zu gefährden? Es geht nicht um die moralische Verurteilung der Eltern, sondern um den Schutz des Kindes.
 

Das klingt so, als bräuchte eine Fachkraft viel Wissen und Erfahrung?

Schöning: Ja. Deshalb entwickeln wir eine VR-basierte Anwendung, mit der schon Studierende aber auch Fachkräfte wie in einem Flugsimulator unter sicheren Bedingungen üben können, solche schwierigen Situationen richtig zu erfassen und zu bewerten und Reaktionsmöglichkeiten ausprobieren können.
 

Wie kann man sich so einen virtuellen Raum vorstellen?

Prof. Dr. Julius Schöning: Der Proband “betritt“ eine Wohnung, die sich hinsichtlich Ausstattung und Personen variieren lässt. Um niemanden zu überfordern, passen wir Szenarien entsprechend an, blenden Merkmale ein- oder aus, legen zum Beispiel fest, ob das Kind schreckhaft ist, oder hypersensibel, schwer atmet oder seinen Vater beobachtet. Es geht darum, die Gefahrensituation eines Kindes so realitätsgetreu und so genau wie möglich abzubilden.
 

Wieso kann eine Fachkraft besser lernen, wenn sie virtuell damit konfrontiert wird, als wenn sie beispielsweise einen Film zum Thema sieht?

Radewagen: Das macht einen riesigen Unterschied. Die Anwendung ist erheblich näher an der Realität. Der Proband betritt ein Zimmer, sieht sich um, beobachtet die Familie, findet möglicherweise Anzeichen, die auf häusliche Gewalt oder andere Gefährdungen hinweisen und entscheidet, was als Nächstes passiert. So kann die Fachkraft in einem lebensecht wirkenden Setting ihre Entscheidungskompetenz trainieren.
 

Mit der Anwendung kann also bestenfalls Erfahrung aufgebaut werden, die normalerweise erst nach Jahren im Beruf und nach vielen Gefährdungseinschätzungen entwickelt wird?

Liebe: Genau, wir erforschen, welche Effekte das Lernen in diesen virtuellen Umgebungen wirklich hat. Beispielweise gehen wir der Frage nach, ob die Anwendung zum anvisierten Kompetenzaufbau führt. Aber auch die Frage, ob ein solches Training überhaupt akzeptiert wird, wollen wir klären. Neben diesen primären Fragestellungen verfolgen wir mit dem Projekt langfristig aber auch noch andere Ziele. So möchten wir die virtuellen Umgebungen später auch dazu nutzen, Chancen und Risiken KI-gestützter Systeme zur Einschätzung des Gefährdungsrisikos zu erforschen. Hierfür bieten die virtuellen Szenarien sichere Laborbedingungen. Diese können wir nutzen, um gerade im Kontext sensibler Entscheidungen, wie eben die der Gefährdungseinschätzung, KI-Systeme ohne großes Risiko zu testen. Dabei denke ich an unterschiedliche Zielparameter, wie die der Genauigkeit, der Empfindlichkeit, der Usability und natürlich auch an die Erklärbarkeit der Systeme.
 

Wie finden Sie denn heraus, welche Effekte das System hat?

Liebe: Je nach Fragestellung nutzen wir unterschiedliche Studiendesigns. Was den Kompetenzaufbau und die oben genannten Parameter betrifft, führen wir eine randomisierte kontrollierte Studie (RCT) durch. Das heißt, wir arbeiten mit einer Interventionsgruppe, die die Anwendung einsetzt und mit einer Kontrollgruppe, die dies nicht tut. Für andere Fragen nutzen wir Fokusgruppendesigns und natürlich auch klassische Umfragen bzw. Querschnittsstudien.
 

Und welche negativen Folgen könnte der Einsatz dieses KI-basierten Systems haben?

Liebe: Wenn wir über ein System zur Gefährdungseinschätzung sprechen, besteht das vermutlich größte Risiko in einer falsch positiven beziehungsweise in einer falsch negativen Einschätzung. Also, dass eine Kindeswohlgefährdung festgestellt und das Kind aus der Familie genommen wird, obwohl es nicht gefährdet ist, oder, im umgekehrten Fall, dass das Kind in der Familie verbleibt, obwohl es gefährdet ist. Wobei das Herausnehmen aus der Familie natürlich ein Extrembespiel ist. Ein weiteres Risiko wäre mangelndes Vertrauen, wenn das System zwar sehr gut funktioniert, Menschen ihm jedoch nicht zutrauen, richtige Entscheidungen zu trainieren oder sogar zu treffen. Aber nochmal, in AID4Children entwickeln wir erst einmal die Testumgebung, um diese Risiken einschätzen zu können.
 

Wie können diese Risiken minimiert oder vermieden werden?

Schöning: Indem wir die Anwendungen sehr sorgfältig aufbauen. Dafür braucht es die fachliche Expertise und einen hohen technischen Standard, damit virtuelle Räume entstehen, die wirklich bis ins Detail realitätsgetreuen Situationen entsprechen, wie sie der Fachkraft im Berufsleben begegnen. Wir verstehen die Simulation außerdem als ergänzendes Werkzeug, das flankiert sein muss von professioneller Betreuung und guter Intervention.
 

Arbeiten Sie mit der Praxis zusammen, um die Anwendung zu entwickeln und zu optimieren?

Radewagen: Wir stehen bundesweit mit rund zehn Jugendämtern und freien Jugendhilfeträgern im Kontakt, die mitarbeiten wollen. Sie werden uns dabei unterstützen, die Situationen so lebensnah und realistisch wie möglich darzustellen und die Anwendung testen. Die Praxis kann mit dem Tool außerdem ihre eigenen Fachkräfte schulen und handlungssicherer machen.  
 

Und wo liegen die Chancen virtueller Szenarien im Vergleich zu herkömmlichen Trainingsmethoden, wie zum Beispiel Rollenspielen?

Schöning: Es gibt eine Reihe von Vorteilen. Zu nennen wäre die gute Skalierbarkeit solcher Szenarien. Das heißt der Schwierigkeitsgrad kann jeweils auf den Probanden zugeschnitten werden und wir können sie mit überschaubarem Aufwand sehr variantenreich gestalten. Zudem ist die Technik örtlich und zeitlich flexibel, schneller und günstiger.

Liebe: Ihr Einsatz könnte für viele Berufe sehr hilfreich sein, in denen komplexe Situationen erfasst und schnell gehandelt werden muss, es aber oft Jahre dauert, bis das erforderliche Erfahrungswissen aufgebaut ist. Diesen Prozess können virtuelle Szenarien beschleunigen.
 

Zum Hintergrund

Das Projekt AID4Children profitiert von verschiedenen Vorleistungen. Hierzu zählt einerseits die 2018 entwickelte und etablierte „Kindeswohlmatrix“ für die Gefährdungseinschätzung und der Lehrschwerpunkt „Kindeswohlgefährdung“, im Studiengang Soziale Arbeit, der ein optimal zugängliches Testumfeld darstellt. Außerdem stehen diverse Labore, wie das KI-Hochleistungscluster, Virtual-Reality-Räume und Usability-Labore zur Verfügung. Es werden überdies drei Promotionsstellen zum Themenbereich KI geschaffen und dem Graduiertenkolleg der Hochschule Osnabrück angegliedert. Das Projekt hat eine Laufzeit von drei Jahren und wird durch die Förderlinie zukunft.niedersachsen mit rund 500.000 Euro unterstützt.

Website des Forschungsprojekts: www.hs-osnabrueck.de/aid4children/
Kindeswohlmatrix: www.tim-osnabrueck.de/nachricht/arbeit-im-kinderschutz-vertrauen-schaffen-sicherheit-bieten

Von: Isabelle Diekmann