Geeignete Methoden für Praxistransferprojekte – Teil 1: Die Beobachtung Montag, 24. Oktober 2022

Auf einem Tisch liegt ein beschriebenes Notizbuch, auf dem ein Stift und eine Brille liegen. Daneben liegt ein Smartphone und davor steht ein Laptop.
Foto von Dan Dimmock.

Praxistransferprojekte stellen einen festen Bestandteil des dualen Studiums am Campus Lingen dar, um Theorie und Praxis miteinander zu verknüpfen. In einer vierteiligen Reihe stellen wir verschiedene Methoden für die PTPs vor. Den Anfang macht die wissenschaftliche Forschungsmethode „Beobachtung“.

Praxistransferprojtekte (PTPs) sind schriftliche Ausarbeitungen, in denen dual Studierende eine betriebliche Fragestellung theoriegeleitet bearbeiten müssen. Hintergrund- und weiterführende Informationen bieten die Beiträge „Praxistransferprojekte und ihre Bedeutung für das duale Studium“ und „Tipps und Tricks fürs nächste PTP“ (siehe unten).

Beobachtungen werden in fast allen wissenschaftlichen Forschungsbereichen genutzt: beispielsweise zur Untersuchung von Käufer*innenverhalten, dem menschlichem Nutzungsverhalten von Webseiten, der Mensch-Maschine-Interaktion, dem Vorgehen bei der Software-Entwicklung, dem Engineering oder dem Fehlerverhalten von Maschinen.

Ziel der wissenschaftlichen Beobachtung

Eine Beobachtung zielt darauf ab, Kenntnisse über einen Ist-Zustand eines Untersuchungsgegenstandes zu erfassen. Die Erfassung kann sich auf Handlungsabläufe, Prozesse, Beziehungen, Organisationsstrukturen oder Muster bei Interaktionen beziehen. Im Hinblick auf die Strukturen wäre die umgangssprachlich ausgedrückte leitende Frage entsprechend: „Wie ist etwas aufgebaut?“. Mit Fokus auf die Prozesse, also etwas Dynamischem, wäre die Frage eher: „Was passiert hier?“ oder „Wie funktionieren diese Abläufe?“.

Beobachtungen stehen also häufig am Anfang einer Forschung, um zu erfassen, was bei einem Untersuchungsgegenstand aktuell der Fall ist. Darauf stützen sich dann weitergehende Überlegungen, ob der aktuelle Zustand veränderungsbedürftig ist. Aber Beobachtungen können auch im Verlauf einer Forschung oder am Ende stehen. Wird bspw. die Forschung dazu genutzt, Vorschläge zur Veränderung eines Systems oder eines Prozesses zu entwickeln, erfolgt die Beobachtung zum Schluss – quasi im Sinne einer Evaluation – ob die vorgenommenen Veränderungen auch die gewünschten Wirkungen zeigen.

Wichtig ist, den Beobachtungsgegenstand möglichst nicht durch die Beobachtung zu verfälschen. Dies ist ganz besonders wichtig bei der Beobachtung von Interaktionen zwischen Personen, z.B. Verkäufer*innen und Kund*innen. So können bei der Beobachtung Verhaltensweisen aufgedeckt werden, die den Personen selbst gar nicht bewusst sind.

Beobachtungen können auch in Kombination mit anderen Forschungsmethoden, z.B. einer Befragung, durchgeführt werden, da sie einen anderen Zugang zum Untersuchungsgegenstand ermöglichen. 

Must Haves – Beobachtungskriterien und wissenschaftliche Neutralität

Für eine erfolgreiche Durchführung einer Beobachtung muss zunächst klar sein, was beobachtet/erfasst werden soll. Deshalb muss die Beobachtung systematisch angelegt sein. Das heißt zielgerichtet und kriteriengeleitet. Die Beobachtungsziele müssen daher nach Leitfragen definiert werden: Was will ich erfassen? Und woran kann ich das zu Erfassende erkennen? Dazu werden Kriterien benötigt, die idealerweise den Beobachtungszielen zugeordnet werden können.

Die Beobachtungskriterien können, wissenschaftlich gesprochen, deduktiv oder induktiv bestimmt werden: Deduktiv bedeutet, dass es eine Theorie oder ein fachspezifisches Modell gibt, mit dem der Beobachtungsgegenstand beschrieben wird. Dann werden die Beobachtungskriterien aus dem Modell abgeleitet. Beispielsweise gibt es für das Käufer*innenverhalten unterschiedliche Modelle in der Literatur: preis-, qualitäts- oder präsentationsgesteuertes Verhalten oder auch Kaufverhalten, das auf Empfehlungs- oder Influencermarketing beruht. Daraus können dann Kriterien für den Praxisfall abgeleitet werden. Induktiv bedeutet, dass Phänomene aus der Praxis in Kriterien überleitet werden. Es werden demnach Auffälligkeiten in der Praxis beobachtet, die in Kriterien überführt werden.

Zudem muss bei einer Beobachtung die wissenschaftliche Neutralität sichergestellt werden. Damit ist gemeint, dass Beobachtungen nicht subjektiv, nach Interessen oder Wunschvorstellung der Forschenden verzerrt werden. Also der Beobachtungsgegenstand nur in der Hinsicht erfasst wird, dass erwünschte Annahmen der Forschenden erfüllt werden und andere Kriterien nicht in die Beobachtung einbezogen werden. Die weitgehende Sicherung der Neutralität wird durch eine besonders strikte Orientierung an einem wissenschaftlich geprüften Modell aus der Literatur hergestellt. Ergänzt werden kann das durch den Einsatz von mehreren unabhängigen Beobachtenden.

Formen der Beobachtung

Anhand von verschiedenen Merkmalen und nach dem Grad der Standardisierung lassen sich mehrere Formen von Beobachtungen differenzieren. Beispielsweise wird hinsichtlich der Kriterien Transparenz (offen/verdeckt), Beobachtungsrolle (teilnehmend/nicht teilnehmend), Beobachtungsobjekt (Selbstbeobachtung/Fremdbeobachtung), Realitätsbezug (direkt/nicht direkt) und der Natürlichkeit der Situation (Feld/Labor) differenziert. Hinsichtlich der Standardisierung lassen sich unstandardisierte, teilstandardisierte und standardisierte Beobachtungen unterscheiden.

Ablauf der Beobachtung

Eine Beobachtung gliedert sich in mehrere Phasen und muss gut vorbereitet werden:

  1. Zielklärung: Was will ich beobachten und zu welchem Zweck?
    1. Entweder Erfassung eines bestimmten Zustandes, um den Untersuchungsgegenstand zu beschreiben (deskriptive Modellbeschreibung) oder
    2. Erfassung eines Zustandes, um Hypothesen zu prüfen (Erklärungsmodelle)
  2. Auswahl der Beobachtungsmethoden (s.o.)
    1. Auf der Basis wird ein Kriterienkatalog entwickelt, der in einem Beobachtungsbogen mündet
  3. Form der Beobachtung genau definieren (wissenschaftliche Fundierung)
  4. Beobachtungsdurchführung mit ein oder mehreren Beobachtenden
  5. Zusammenstellung der Erhebungsergebnisse
    1. Zu einer Aufbereitung der gesammelten Daten gehört zunächst die Beschreibung der Stichprobe
    2. Darauf folgt die Darstellung der reinen Häufigkeiten zu einem bestimmten Kriterium, d.h. wie häufig zeigt sich bspw. eine bestimmte Verhaltensweise - oder anders ausgedrückt, wie häufig wird ein Beobachtungskriterium erfüllt.
    3. Danach können die Daten in das zugrundeliegende Modell überführt oder zur Modellbildung genutzt werden. 
    4. Abschließend Auswertung mit statistischen Methoden wie Korrelationsanalyse möglich
    5. Bei jedem einzelnen Schritt ist sehr viel Sorgfalt erforderlich, die auch entsprechende Zeit benötigt.
  6. Kritische Reflexion
    1. Wichtig ist es, kritisch auf den Beobachtungsprozess, die eingesetzten Methoden und die ermittelten Ergebnisse zu schauen. Sind ggf. Fehler oder Einflussfaktoren aufgetreten, die bei der Konzipierung der Beobachtung nicht bedacht wurden und können diese einen Einfluss auf die Interpretation der Ergebnisse haben. Das Wichtigste an einer kritischen Reflexion ist, dass sie wirklich kritisch ist und nicht zu einer Ansammlung von Begründungen gerinnt, die die absolvierte Vorgehensweise rechtfertigen oder gar beschönigen. An der Form der kritischen Reflexion lässt sich sehr schnell die wissenschaftliche Haltung der/des Forschenden erkennen.

Praktische Einsatzmöglichkeiten von Beobachtungen

Die Anwendungsmöglichkeiten der Methode Beobachtung in PTPs sind wirklich vielfältig. Die nachfolgend aufgeführten Anwendungen haben lediglich Beispielcharakter und sind nur eine äußerst geringe Auswahl, die auch für alle Studiengänge relevant sein können.

So könnte ein*e Forschende*r beobachten, wie selbständig Aufgaben von Personen erledigt werden oder wie Arbeitsschritte ausgeführt werden und welche Hilfsmittel genutzt werden. Interessant ist auch die Beobachtung des Verhaltens von Zulieferfirmen im Fall von Mängeln im Zulieferungsprozess. Aber auch die eigenen Prozesse in einem Unternehmen – ob im Einkauf, in der Produktion, in der Rechnungslegung im Vertrieb – können durch Beobachtungsmethoden erfasst werden. Dies bietet sich für PTPs besonders an, da dadurch sehr viel über die Arbeitsvorgänge gelernt werden kann. Manchmal kann man auch technische Systeme zur Unterstützung der Beobachtung nutzen. So kann z.B. mittels der Eye-Tracking-Methode unter Nutzung einer „Tracking-Brille“ erfasst werden, wohin z.B. Kund*innen als erstes schauen, wenn sie vor einem Regal stehen oder an einem Bildschirm sitzen. Gibt es hier vielleicht auch einen Einfluss von Farben?

Außerdem könnten Forschende mithilfe einer Beobachtung die Klickzahlen einer Webseite nach der Suchmaschinenoptimierung (Beobachtung verläuft hier automatisiert) oder die Nutzung und Akzeptanz von Tablets nach der Integration in den täglichen Arbeitsablauf untersuchen. Auch eine Untersuchung von Meetings und Abstimmungen in agilen Softwareentwicklungsprojekten könnte mit einer Beobachtung erfolgen.

Auch die Beobachtung der Geschwindigkeit von Produktionsabläufen nach einer Umstellung auf automatisierte Lösungen stellt ein Anwendungsbeispiel von Beobachtungen dar. Außerdem könnten die Fragen: „Welche Informationen nutzen Ingenieur*innen bei der Konstruktion oder Auslegung ihrer Produkte? Wie funktioniert der Einsatz einer Maschine in der Praxis? Wie ist das Handling? Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

In der Bibliothek gibt es weiterführende Literatur zur Methode der wissenschaftlichen Beobachtung. Tauschen Sie sich gerne auch fachübergreifend mit (dualen) Kommiliton*innen zu dieser Methode aus. Fragen Sie ggf. Ihre*n Studienbetreuer*in nach weiteren Studierenden, die die gleiche Methode wie Sie verwenden. Falls Sie Fragen zu den PTPs haben, sollten Sie sich im ersten Schritt an Ihre Lehrenden wenden. Diese können Ihnen die Anforderungen mitteilen und bei der Wahl geeigneter Methoden helfen. Außerdem kann Sie das Büro für Studierenden- und Unternehmensbetreuung des IDS unterstützen. In den nächsten Beiträgen stellen wir die Dokumenten- und die Arbeitsplatzanalyse sowie die Systematische Literaturanalyse vor.

 

Literatur und Empfehlungen:

Atteslander, P. (1995): Methoden der empirischen Sozialforschung. Sammlung Göschen de Gruyter. 2 Auflage. Berlin. S.87.

Brosius, H-B., Haas, A., & F. Koschel (2016). Methoden der empirischen Kommunikationsforschung. Eine Einführung. 7., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Wiesbaden: Springer VS.

Fleck, C. (2000). Die Arbeitslosen von Marienthal: ein soziographischer Versuch über die Wirkungen lang andauernder Arbeitslosigkeit. In D. Kaesler, & L. Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. Stuttgart: Kröner. S. 221-226.

Gniewosz, B. (2011): „Beobachtung“ in: Reinders, H., Ditton, H., Gräsel, C., & Gniewosz, B. (2011): „Empirische Bildungsforschung: Strukturen und Methoden“. VS Verlag für Sozialwissenschaften/Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, Wiesbaden. S. 99-108.

Häder, M. (2010): „Empirische Sozialforschung“. 2. Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. S. 299-311.

Martin, E. & Wawrinowski, U. (2006). Beobachtungslehre. Theorie und Praxis reflektierter Beobachtung und Beurteilung. Weinheim: Beltz Juventa.

Thierbach, C. und Petschick, G. (2014): Beobachtung. In: Baur, N. Blasius, J. (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, DOI 10.1007/978-3-531-18939-0_66, Springer Fachmedien Wiesbaden 2014.

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